Cover: Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Bayrak, Cana; Frank, Annika; Heintges, Jessica; Sotkov, Mihail


Die Rolle der Zäsur beim autobiografischen Erzählen

Deniz Böing 1


1 Dortmund

1 Einleitung

„Das, worum es doch beim autobiografischen Erzählen geht, sind die Zäsuren im Leben und deren retrospektive Plausibilisierung.“ (Zitat aus einem persönlichen Gespräch mit Ludger Hoffmann im Jahr 2016)

 

Ohne solche Zäsuren, d.h. einschneidende persönliche Ereignisse im Leben, die einen Bruch darstellen, sowie deren Bewertung und Plausibilisierung aus der Distanz würde sich das autobiografische Erzählen kaum von der Form des Lebenslaufs unterscheiden. Beim autobiografischen Erzählen wird der gegenwärtige Status des Sprechers aus dem Hier und Jetzt heraus erklärt, wobei der Anspruch auf Verträglichkeit mit der Erzählgegenwart stets gewährleistet werden muss. So werden die salienten Ereignisse, die Stationen des Lebens einleiten, zu Zwecken der Identitätspräsentation rekonstruiert und mit dem Ziel einer geteilten Wertung dargestellt (vgl. Hoffmann 2018, S. 221 f.) [1]. Der Hörer nimmt somit eine aktive Rolle ein; für ihn wird ausgewählt und erzählt, seine Rückmeldungen beeinflussen den Gang des Erzählens. Im Mittelpunkt steht dabei eine „umgekehrte Zielstruktur“ (Rehbein 1982, S. 54) [2], die darauf abzielt, den gegenwärtigen Status zu erklären, und die ins Hier und Jetzt mündet. Entscheidungsprozesse können dabei als zerdehnte dargestellt, plausibel gemacht und im Nachhinein begründet werden. Im Erzählprozess nutzt der Sprecher den interaktiven Raum als Ressource für die Entfaltung von salienten Lebensabschnitten. Dabei muss die Erzählstruktur mit Blick auf die eigene Identität über die gesamte Erzählung hinweg Kohärenz gewährleisten und Faktizität beanspruchen; die einzelnen Ereignisse, insbesondere der Umgang mit Brüchen und eine daraus erkennbare Verlässlichkeit sowie Regelmäßigkeit des Erzählers in Bezug auf sein Handeln, lassen die eigene Positionierung des Sprechers erkennen. Diese Kohärenz ermöglicht, dass die Stationen seines Lebens aus der Retrospektive plausibel werden und ein großes Ganzes, die eigene Identität nämlich, manifestieren (vgl. Hoffmann 2018, S. 221 f.) [1].

Die für das autobiografische Erzählen charakteristischen Zäsuren entstehen aus je individuellen situativen Umständen, denen der Sprecher im Verlauf seiner Biografie ausgesetzt war. Obwohl eine Vielzahl von je unterschiedlich ausgeprägten Parametern zu einer biografischen Zäsur führen kann, lassen sich doch verschiedene Kategorien herausarbeiten. Zunächst vergegenwärtigen wir uns, dass beim autobiografischen Erzählen höchst persönliche Erfahrungen für einen institutionellen Zweck, nämlich den der gesellschaftlichen Wissensgenerierung, erzählt werden. Der Diskurs ist für diesen Zweck bestimmt. Somit weist diese Diskursform Merkmale sowohl einer institutionellen Kommunikation als auch einer homileïschen Alltagskommunikation auf (vgl. Ehlich/Rehbein 1980, S. 343) [3]. Der institutionelle Zweck tritt jedoch im Laufe des Gesprächs zugunsten der Etablierung einer gemeinsamen Erzählwelt immer mehr in den Hintergrund.

 

2 Zäsuren im autobiografischen Erzählen 

 

Die folgenden Beispiele 1 und 2 des autobiografischen Erzählens, die im Rahmen zeitlich offener narrativer Interviews entstanden sind, haben ihren thematischen Schwerpunkt in den persönlichen Migrationserfahrungen der Erzähler.Beide Erzähler (Namen pseudonymisiert) stammen gebürtig aus der Türkei und sind nach Deutschland migriert.

In Beispiel 1 „Prachtleben“ finden wir die folgende Konstellation: Der Sprecher Herr Ataman (70 Jahre) erzählt von seinen beruflichen Anfängen als Zahnarzt in einem kleinen Ort in der Ost-Türkei, wo er es in kurzer Zeit zu beruflichem Erfolg und finanziellem Wohlstand gebracht hatte. Er bahnt die Argumentation und Entscheidungsgrundlage für einen im späteren Gesprächsverlauf aufgegriffenen Standort-Wechsel seiner Praxis nach Istanbul an.

 

 

Eingeleitet wird diese biografische Zäsur mit einer reflektierenden Frage in Bezug auf die eigenen Lebensvorstellungen (s1). Der Sprecher versetzt sich mental in seine damalige Situation und vollzieht aus der früheren Perspektive heraus einen Abgleich zwischen seinem (ökonomischen) Lebensstatus – ausgedrückt im Symbolfeldausdruck Prachtleben (s2) – und seinen persönlichen Vorstellungen von Selbstverwirklichung, sprachlich realisiert im Symbolfeldausdruck Lebensaufgabe (s1). Diese gehen nicht miteinander konform und bilden somit zwei Pole, die in Opposition zueinander treten. Auch findet die Distanzierung des Sprechers gegenüber seinem eigenen Leben in finanziellem Wohlstand in der Äußerung für da (s2) Ausdruck: da, das als Lokaldeixis dem sprachlichen Fernbereich zuzuordnen ist, für, das eine relativierende Funktion erfüllt. Mit da distanziert sich der Sprecher von dem dörflichen Leben, es steht in Opposition zum Stadtleben in Istanbul, für das sich der Sprecher, wie er zu einem späteren Zeitpunkt des Diskurses erzählen wird, im Nachhinein entschieden hat. Dieser Kontrast wird im weiteren Gesprächsverlauf immer wieder aufgemacht. Die mentale Dissonanz zwischen Äußerem und Innerem mündet in einem Bruch mit der gegenwärtigen Situation, der zum Ausgangspunkt für eine neue Station in der Autobiografie des Sprechers wird. Dieser stellt heraus, dass er mit seiner Frau allein (s3) gesprochen hat, seine Frau und er also gemeinsam und unabhängig von anderen entscheiden. Im weiteren Gesprächsverlauf greift der Sprecher alle Möglichkeiten auf, die er aus der damaligen Perspektive hatte, um die von ihm gewünschte Vereinbarkeit von ökonomischer Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung zu erreichen. Die ausgewählte Sequenz in Beispiel 1 gewährt somit Einblicke in die Wertvorstellungen des Sprechers, mit denen er sich positioniert und die es im weiteren Verlauf der Erzählung zu verfestigen gilt: Geld ist ihm nicht wichtig bzw. nimmt es in Relation zur Selbstverwirklichung eine untergeordnete Rolle ein. Kennzeichnend für diese biografische Zäsur ist also gerade nicht, dass ein äußerer Handlungszwang diese erzeugt hat, sondern ein innerer Wunsch nach Veränderung.

Anders verhält es sich in Beispiel 2 „Assistenzarztstelle“. Der Sprecher Herr Akova (65 Jahre) ist von Beruf auch Arzt und erzählt von seiner Suche nach einer Weiterbildungsstelle zum Facharzt, bei der er auf diverse Hürden stößt. Am Universitätsklinikum in Izmir wurde ihm von einem Professor im Fachbereich Urologie eine Assistenzarztstelle fest zugesagt. Diese Stelle wird ihm nun verwehrt, da sie spontan dem Sohn eines anderen Professors gegeben wird.

 

 

Der Sprecher sucht zunächst nach Erklärungen dafür, dass er die ihm versprochene Stelle letztlich nicht bekommen hat. Er kommt zu dem für ihn plausibel erscheinenden Grund, dass der Urologie-Professor zum Zeitpunkt der Zusage am Anfang (s1) die tatsächliche Absicht hatte, ihn einzustellen. Diese Bewertung bringt auch zum Ausdruck, dass der Erzähler sich nicht etwa als Opfer einer ungerechten Behandlung sieht, sondern eher sachlich an die Analyse geht. Die einzige rationale Erklärung ist demnach, dass mit dem Erscheinen des Sohnes des anderen Professors der Sachverhalt im Nachhinein (s2) ein anderer als in der Ausgangssituation war, denn als Sohn des anderen Professors tritt der neue Konkurrent aufgrund der Beziehung und gemäß der gelebten Praxis nun an die erste Stelle. Der Sprecher schließt bei seiner Analyse der Situation mögliche Gründe, die z.B. in seiner Person liegen könnten, aus (s2). Daraus lässt sich ableiten, dass er nicht an sich zweifelt, sich stattdessen selbstbewusst präsentiert.

Diese veränderten Umstände führen dazu, dass der Sprecher seinen Plan verwerfen muss und wieder nach Osten (s3) geht. Die Suche nach der begehrten und zugleich raren Facharztstelle gestaltet sich umständlich und mit Wartezeit verbunden (wenn du hier nicht warten möchtest (…) vier fünf Jahre Punkte sammeln möchtest) (s5). Der Sprecher will diese Situation nicht abwarten und erwägt stattdessen neue Lösungen für das Problem, indem ihm die Idee kommt, die Ausbildung in Deutschland zu absolvieren, wo dies scheinbar unkomplizierter möglich ist. Diese kommt zwischendurch (s5), was eine gewisse Beiläufigkeit vermittelt: Der Erzähler gerät nicht in Bedrängnis, seine Situation ändern zu müssen, etwa weil er sie nicht ertragen könnte, sondern sucht aktiv nach guten Handlungsalternativen. Nun trägt es sich zu, dass er von einem Bekannten über eine Alternative, die Facharztausbildung anzutreten, informiert wird (s5). Interessant ist dabei, wie der Sprecher entscheidungsfreudig (s6) beschließt, dieser neuen Option auch tatsächlich nachzugehen. Diese durchaus folgenreiche Entscheidung, in einem fremden Land zu leben und zu arbeiten, wirkt durch die Äußerung kurzer Hand (s6) stark relativiert. Einmal mehr stellt der Erzähler seine Souveränität unter Beweis: Er ist dazu imstande, seine Lage selbst in die Hand zu nehmen und positiv zu beeinflussen, und dies sogar entschieden und schnell.

 

3 Fazit

 

Wir halten fest, dass sich verschiedene Ausprägungsformen von Zäsuren zeigen; anhand der Beispiele 1 und 2 sind folgende zu charakterisieren:

  1. Es gibt Zäsuren, die durch einen inneren Handlungsdruck entstehen. Dieser kann Ausdruck finden im Überdenken von Wertvorstellungen, im Korrigieren von Prioritäten oder im Bruch einer Situation aufgrund einer bestimmten Haltung gegenüber einem Ereignis. Exemplarisch dafür steht das Beispiel 1 „Prachtleben“.

  2. Es finden sich außerdem Zäsuren, bei denen ein Handlungsraum von außen versperrt ist: Der Sprecher hat keinerlei Einfluss – so im Beispiel 2 „Assistenzarztstelle“ – und ist gezwungen, eine Planrevision vorzunehmen. Äußere Umstände können etwa eine Kündigung, Krankheit, Umweltkatastrophen oder andere einschneidende Ereignisse sein.

Zentral für das autobiografische Erzählen ist also nicht einfach das Auftreten einer Zäsur, sondern der Umgang des Erzählers mit ihr: Wird er zum Handelnden oder wird er handlungsunfähig? In welcher Position stellt er sich selbst dar? Diese „primär sprecherorientierte Diskursfunktion“ (Hoffmann 2018, S. 208) [1], in der der Erzähler sich je nach „Involviertheit […] in ein Geschehen“ (ebd.) [1] z.B. als Sieger/Verlierer, Glückspilz/Pechvogel charakterisieren kann, ist grundlegend für das autobiografische Erzählen. Bei dieser Diskursform geht es wie bei kaum einer anderen um das eigene Ich (Selbstbild) im Umfeld sozialer und persönlicher Umstände, um die Art und Weise, wie sich der Sprecher selbst sieht und v.a. auch wie er möchte, dass andere auf seine Biografie und damit auf seine Identität blicken, welches Fremdbild (Image) sie von ihm entwickeln. Eine Zäsur kann also – je nachdem, wie sie der Sprecher im Kontext der Progression seiner Lebensgeschichte bewertet – (retrospektiv) zur Möglichkeit im Sinne einer Chance werden.

 


1      Interviews (Aufnahme, Transkription und Segmentierung) D. Böing.


References

[1] Hoffmann, Ludger (2018): Erzählen aus funktional-pragmatischer Perspektive. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2), S. 203–224.
[2] Rehbein, Jochen (1982): Biographisches Erzählen. In: Eberhard Lämmert (Hg.): Erzählforschung. Stuttgart: Metzler, S. 51–73.
[3] Ehlich, Konrad; Rehbein, Jochen (1980): Sprache in Institutionen. In: Hans P. Althaus, Helmut Henne und Herbert E. Wiegand (Hg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Tübingen: Niemeyer, S. 338–345.