Rassismus und Diskriminierung. Sprache – Macht – Literatur
1 Dortmund
1 Ausgangspunkt und Bestandsaufnahme
Die Bundesrepublik Deutschland tut sich mit der Vielfalt der (ethnischen) Herkünfte ihrer (Neu-)BürgerInnen seit jeher schwer. Sowohl in der Ära des politischen Postulats ‚Kein-Einwanderungsland‘ als auch seit der offiziellen Anerkennung der faktischen Zuwanderung, die die meisten Quellen – etwas vage – auf die Jahrtausendwende datieren, nimmt das Land sie kaum oder nur als zu verwaltendes Problem zur Kenntnis. Die Antwort auf die drängendsten gesellschaftspolitischen Fragen, die eher sozialer Natur und auf Benachteiligungen zurückzuführen sind, sucht man vor allem in der (ein- und migrantenseitigen) Integration. Seit fast zehn Jahren werden Anstrengungen unternommen, die unter dem Stichwort ‚interkulturelle Öffnung‘ der gesellschaftlichen Institutionen subsumiert werden und in vielerlei Hinsicht immer noch in den Kinderschuhen stecken (siehe hierzu Vanderheiden/Mayer 2014) [1].
Auch in der Migrationsgesellschaft Deutschland sucht und findet man für politische Kategorisierungen immer neue Begriffe für den „Migrationsanderen“ (Mecheril/Castro Varela/Dirim/Kalpaka/Melter 2010, S. 17) [2], dessen Differenz im Laufe der Jahrzehnte an seiner Staatsangehörigkeit (‚AusländerIn‘), ethnischen Herkunft (‚TürkIn‘), Religion (‚MuslimIn‘) und Herkunft der VorfahrInnen (‚Migrationshintergrund‘) festgemacht wurde (zum Prozess der kulturellen Konzeptualisierung im Spiegel des Wechsels der Bezeichnungen siehe Schmitz 2018, S. 52 ff.) [3]. Der neueste Vorschlag der von der Regierung beauftragten Fachkommission Integrationsfähigkeit, vom Begriff ‚Migrationshintergrund‘ nach 15 Jahren Abstand zu nehmen und künftig „Eingewanderte und ihre (direkten) Nachkommen“ zu adressieren, ist begrüßenswert (vgl. Fachkommission 2020, S. 224) [4]. Doch wird auf die (erneute) Infragestellung unserer gesellschaftlichen Benennungspraxis endlich ein entschiedener Schritt, der nicht lediglich auf die Realität schaffende Wirkkraft des (positiven) Wortes setzt, sondern auch einen scharfen Übergang zu Ursachenbekämpfung, Inklusion und Chancengleichheit für alle markieren wird, folgen?
Sowohl im gesellschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs gibt es Entwicklungen, die einerseits Anlass zur Hoffnung geben, andererseits aber zur Vorsicht mahnen. Eingewanderte und ihre Nachkommen machen seit einem halben Jahrzehnt wieder verstärkt auf mangelnde Repräsentation, fehlende Teilhabe und Rassismus aufmerksam und nutzen dabei unter anderem die Social-Media-Kanäle als Sprachrohr. Gleichzeitig widmen sich zahlreiche Sachbücher der gleichen Personengruppe diesen und ähnlichen Aspekten der Gegenwartsdiagnose und werden auch in den ‚traditionellen‘ Medien besprochen (vgl. Ogette 2017 [5]; Czollek 2018 [6]; El-Mafaalani 2018 [7]; Hasters 2019 [8]; Aydemir/Yaghoobifarah 2019 [9]; Foroutan/Hensel 2020 [10]; Gümüşay 2021 [11]). Beide Entwicklungen schaffen dadurch eine diskussionsbereite Gegenöffentlichkeit zum Rechtsruck, der sich erklärterweise aus dem schwindenden Vertrauen in die politischen Eliten und der eigenen, als prekär eingeschätzten sozio-ökonomischen Lage speist, werden aber in den Kommentarspalten von einem Teil ihrer LeserInnenschaft, die sich sogar nicht selten zur gesellschaftlichen ‚Mitte‘ zählt, diffamiert.
Mit den gesellschaftlichen Erfahrungen und Erzählungen von Ungleichheit in unserer pluralistischen Gegenwart setzen sich auch mehrere Wissenschaftsdisziplinen auseinander, allen voran die Migrationsforschung. Zwar hat sie zwischenzeitlich von einer zu der Jahrtausendwende einsetzenden Modernisierung des politischen Integrationsdiskurses berichten können, aber auch über seine „neuen Verwerfungen […], welche die Bemühungen um stärkere Inklusion und Gleichberechtigung unterminieren“ (Mannitz/Schneider 2014, S. 69) [12]. Bei ihren VertreterInnen setzt sich allmählich die Erkenntnis über den Konstruktionscharakter des Wissens über Migration und MigrantInnen durch, so dass auch der ‚methodologische Kulturalismus‘ (vgl. ebd., S. 2 ff.) [12] bzw. der ‚methodologische Nationalismus‘ (vgl. Glick Schiller/Wimmer 2002) [13] der eigenen Wissenschaftsdisziplin reflektiert wird, um neuen methodischen Zugängen den Weg zu ebnen. Neben den Begriffen ‚Migration‘, ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘ soll in diesem Kontext auch der Diversitätsbegriff, der sich sowohl im akademischen als auch im öffentlichen Diskurs als Alternative ethnischen Sortierungsmustern durchgesetzt hat und eine Abkehr suggeriert, die sie nicht einlöst, einer kritischen Revision unterzogen werden, es sei denn, er wird gegenüber anderen Differenzkategorien geöffnet und intersektional gedacht (vgl. Römhild 2014) [14].
Zu erwähnen wären hier kurz drei innovative Ansätze, die aktuell auf Expansionskurs sind: die transnationale, die postmigrantische und die rassismuskritische Perspektive. Neuere Transnationalismusstudien nehmen eine globale Perspektive auf Migrationsphänomene ein und befassen sich mit den Besonderheiten multipler Teilhabe von EinwanderInnen und ihren Nachkommen an verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten, die ihre Zugehörigkeitsgefühle und soziale Praxen nachhaltig prägen (vgl. Pries 2008, S. 44 f.) [15]. Politik und Forschung haben die Bedeutung migrantischer Netzwerke und ihrer AkteurInnen für die Herkunftsländer längst erkannt, doch was fehlt, ist ein Bewusstsein für ihre Inklusionsleistungen nicht nur in transnationalen, sondern auch in lokalen Kontexten der Aufnahmegesellschaften.
Demgegenüber ist die postmigrantische Perspektive eine
Analyseperspektive, die sich mit gesellschaftlichen Konflikten, Narrativen, Identitätspolitiken sowie sozialen und politischen Transformationen auseinandersetzt, die nach erfolgter Migration einsetzen, und die über die gesellschaftlich etablierte Trennlinie zwischen Migrant-Innen und NichtmigrantInnen hinaus Gesellschaftsbezüge neu erforscht (Foroutan 2018, S. 15, Hervorh. i. O.) [16].
Während sich die empirische Analyse der deutschen Gesellschaft auf die Frage nach den Auswirkungen der neuen Selbstdefinition ‚Migrationsgesellschaft‘ auf Bevölkerung und Institutionen konzentriert, empfiehlt sich auf der gesellschaftspolitischen Ebene die Untersuchung der „Omnipräsenz des Themas Migration“, die „die Gesellschaft vor sich hertreibt und zentrale zugrundeliegende Konflikte überdeckt“, sowie auf der normativen Ebene die Auseinandersetzung mit den „etablierte[n] Prozesse[n] des Ausschlusses und des Othering“ (ebd.) [16].
Bei den zuletzt erwähnten stigmatisierenden und hierarchisierenden Zuschreibungen setzt die Rassismusforschung, eine im deutschsprachigen Raum relativ junge und sich gerade etablierende Wissenschaftsrichtung, an (vgl. Melter/Mecheril 2011) [17]. Sie befasst sich mit der theoretisch-systematischen und historischen Einordnung von Rassismus, untersucht seine unterschiedlichen Formen wie Antisemitismus, Antiziganismus und antimuslimischer Rassismus und setzt sich mit Diskriminierung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und Institutionen moderner pluralistischer Gesellschaften auseinander.
Besondere Bedeutung kommt dabei der rassismuskritischen Bildungsarbeit an Schulen zu. Ausgehend von einem umfangreichen Wissensvorrat über Machtstrukturen der Gesellschaft und Mechanismen sozialer Etikettierungsprozesse möchte das Forschungsfeld die Erziehungswissenschaften und die Fachdidaktiken dahingehend weiterentwickeln, dass LehrerInnen in Besitz eines fundierten rassismustheoretischen Wissens in der Lage sind, den eigenen Unterricht als kulturelle Praxis – bestenfalls intersektional – zu analysieren und zu reflektieren, um allen SchülerInnen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Fereidooni/Simon 2020 [18]; siehe auch die Bemühungen, die Schlechterstellung migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit zu beenden Dirim/Mecheril 2018 [19]).
Doch wie reagiert auf diesen Paradigmenwechsel die germanistische Literaturwissenschaft? Im Folgenden sollen zunächst die von der Literaturwissenschaft bisher präferierten Lesarten vor dem Hintergrund der Besonderheiten der aktuellen literarischen Auseinandersetzung mit Anderssein, Rassismus und Diskriminierung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur thematisiert werden. Anschließend sollen ausgehend von Ludger Hoffmanns Rassismus-Definition erste Überlegungen zum rassismuskritischen Literaturunterricht angestellt und an einem Beispiel für die Sekundarstufe illustriert werden.
2 Macht – Sprache – Literatur
Konzepte von Fremdheit, Andersheit, Identität und Mehrsprachigkeit gehören im deutschsprachigen Raum seit dem cultural turn, der kulturwissenschaftlichen Wende, die sich seit den 1990er Jahren in den Literaturwissenschaften vollzog, zu den zentralen Analysekategorien. Mit den Prozessen der Globalisierung, Migration, Diaspora und Exil wuchs der Literatur die gesellschaftspolitische Aufgabe zu, für die Wahrnehmung des Fremden bzw. des Anderen zu sensibilisieren und die Strategien, mit denen wir ihm begegnen, bewusst zu machen (vgl. Leskovec 2011, S. 33) [20]. Die Literatur- (und Kultur-)Produktion transnationaler Subjekte verlangte durch ihre ‚andere‘ Beschaffenheit auch nach alternativen Zugängen: Die neuartigen Schreibweisen wurden etwa vor den Theorien des Kulturtransfers, Ansätzen der interkulturellen und der postkolonialen Literaturwissenschaft sowie der Gender- und der Exilforschung diskutiert. Eine besondere Bedeutung kam bei der Lektüre den außerliterarischen Entstehungskontexten zu, die aber zu der intendierten Abgrenzung von Korpus und Gegenstand einzelner Forschungsbereiche voneinander oft kaum beitragen konnten (vgl. die Brandbreite der Beiträge und die Vermischung der Perspektiven in Babka/Dunker 2013) [21].
Angesichts der Infragestellung herkömmlicher Vorstellungen interkultureller Literatur durch eine junge, größtenteils in Deutschland, Österreich und der Schweiz geborene und/oder aufgewachsene SchriftstellerInnengeneration, werden in den kommenden Jahren, so meine These, die Weichen auch in der Literaturwissenschaft neu gestellt werden müssen. Denn die deutschsprachige Literatur verzeichnet in den letzten Jahren eine Fülle von neuen Romanen, deren Hauptfiguren in ihrer Weltdeutung und ihren Handlungen eine Abkehr vom Integrationsparadigma demonstrieren und zunehmend transnational und postmigrantisch agieren. Sie wehren sich gegen dichotomisch ethnisierende und rassifizierende Klassifizierungen, die sie in einem ‚Dazwischen‘ verorten, und Zuschreibungen, die sie wegen ihrer Herkunft defizitär erscheinen lassen. Sie revidieren die Feststellung des Schriftstellers Zafer Şenocak von der Jahrtausendwende – „Herkunft ersetzt die Biografie“ (2001, S. 98) [22] –, durch ihre Positionen und kulturellen Praktiken, die vom Bruch mit eingeübten Wahrnehmungsmustern und Evidenzen gesellschaftlicher Reflexion gekennzeichnet sind und Mehrdeutigkeit und Vielstimmigkeit zulassen. Neue Schreibstrategien gegen Othering und progressive Selbstverortungstendenzen liegen etwa den Romanen von Cihan Acar (Hawaii, 2020), Fatma Aydemir (Ellbogen, 2017), Samira El-Maawi (In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel, 2020), Sandra Gugić (Zorn und Stille, 2020), Deniz Ohde (Streulicht, 2020), Ronya Othmann (Die Sommer, 2020), Sharon Dodua Otoo (Adas Raum, 2021), Karosh Taha (Im Bauch der Königin, 2020), Sasha Marianna Salzmann (Außer sich, 2017), Jackie Thomae (Brüder, 2019) und Olivia Wenzel (1000 serpentinen angst, 2020) zugrunde.
3 Rassismus und Diskriminierung als Gegenstand des Literaturunterrichts
Die Basis eines wissenschaftlich fundierten, rassismuskritischen Unterrichts sollte aus einer literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Perspektive eine Definition des Begriffs Rassismus, eine vielfältige Materialsammlung von Kulturgütern, die Rassismus in Geschichte und Gegenwart sichtbar machen, und eine interdisziplinär und global angelegte Analyseperspektive, die sich mit relevanten Wissensbeständen auch der eigenen Kultur dominanz- und machtkritisch auseinandersetzt, bilden. Im Folgenden möchte ich diese drei Aspekte kurz beleuchten und zum Schluss mit dem Roman von Samira El-Maawi, dessen Inhalten und literarisch-ästhetischer Form, in Verbindung setzen.
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3.1 Rassismusbegriff und literaturgeschichtlicher Kontext
Eine präzise, verständliche und leicht zugängliche Begriffsbestimmung bietet Ludger Hoffmann, der sich der Sprache des Rassismus in mehreren Schritten nähert (vgl. Hoffmann 2020, S. 40 f.) [23]. Er stellt zunächst fest, dass die Grundlage des Rassismuskonzeptes eine gesellschaftliche Aufteilung in Gruppen sei, in der die (neutral oder positiv bewertete) Wir-Gruppe gegenüber den (abgewerteten) Die-Gruppen den Vorrang genieße. Um diese Unterscheidung treffen zu können, werden „Eigenschaften herangezogen, die als Indikatoren fungieren“ (ebd., S. 40) [23], die sowohl unveränderlicher, sichtbarer Natur (Hautfarbe, Gestalt, Sprache u.a.) als auch unsichtbar (Herkunft, Blut, Gene u.a.) sein können. Die Differenzierung erfolgt durch Zuschreibungen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind. Zu solchen mit einer Gruppe „assoziierten Dispositionen und Handlungspraktiken“ (ebd.) [23] gehören u.a. Minderbegabung, Faulheit, Triebhaftigkeit, Essgewohnheiten, Feste. Während die Eigenschaften der Eigengruppe, führt Hoffmann weiter aus, „als Merkmale eines Normaltypus“ (ebd., S. 41) [23] dargestellt werden, spielen die Eigenschaften der Die-Gruppen eine minimale oder gar keine Rolle. In der Begründung, falls vorhanden, mischen sich „bloße Plausibilitäten, Vertrauen auf das oberflächlich Sichtbare“ und Formulierungen, die den Anschein von Wissenschaftlichkeit erwecken mit „Mythen, geheime[m] Wissen, spezielle[n] Zugänge[n] Eingeweihter“ (ebd.) [23]. Nicht zuletzt zeigen rassistische Äußerungen „die Merkmale eines im Wissen der Wir-Gruppe verankerten Bildes“ (ebd.) [23]. Hoffmann verweist ferner auf Diskursentwicklungen wie „Konversionen“ (ebd., S. 41, Hervorh. i. O.) [23] und nennt als Beispiele kulturalisierende gesellschaftliche Zuschreibungen bzw. die Religion als Indikator. Überhaupt stellt er die Wandelbarkeit und Flexibilität des Rassismus als das Gefährliche des Phänomens heraus (vgl. ebd.) [23]. Im weiteren Verlauf des Beitrags werden rassistische Äußerungen im Hinblick auf ihre sprachliche Form analysiert. Durch die Auswahl – Textstellen von Kant und Wagner, Artikel aus der Bild-Zeitung, Postings von Politikern in den sozialen Medien – bestätigt Hoffmann nicht nur die Persistenz des Sprachmissbrauchs und der Hassrede, sondern verweist auch auf die Notwendigkeit einer historischen Einbettung bzw. synchrone Betrachtung kanonischer und nichtkanonischer Kulturgüter.
Dem kann der Deutschunterricht Rechnung tragen, indem er auf vielfältige Unterrichtsgegenstände wie literarische und publizistische Texte, Dokumentar-, Fernseh- und Spielfilme, Serien, Hörspiele, Malerei und Fotokunst, Podcasts, Weblogs und andere Internettexte zurückgreift und diese Kulturgüter einerseits als Produkte eines zeittypischen Diskurses betrachtet, andererseits vor dem Hintergrund aktueller Debatten und kultureller Lesarten einer kritischen Analyse unterzieht. Eine literaturhistorische Rückschau auf Reiseberichte, koloniale und postkoloniale Literatur, Kinder- und Jugendliteratur, Tagebücher und Essays weitet den Blick für das Problem kultureller Einschreibungen in unseren Wissensbeständen.
Die Vorläuferinnen der Schriftstellerinnen Samira El-Maawi, Sharon Dodua Otoo, Jackie Thomae und Olivia Wenzel, die Identität(en) im Spannungsfeld von ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘, behandeln, wurden als Autorinnen der sog. Migrationsliteratur rezipiert. In diesen Zusammenhängen war die Literaturproduktion Schwarzer Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Raum dreifach marginalisiert – durch die eigene doppelt minoritäre Stellung in einer von männlichen Schriftstellern dominierten und lange als randständig begriffenen Literatursparte (zur Literatur von „Autor/innen aus dem schwarzafrikanischen Kulturraum“ in Deutschland siehe Riesz 2000, S. 248 ff.) [24]. Ihr literarisches Schaffen artikulierte „Erfahrungen des Schwarzseins, mit Rassismen und/oder geschlechtsspezifischen Formen der Diskriminierung“ (Kron 2009, S. 86) [25] und umfasste
neben politisch-philosophischen Essays vor allem autobiographische Texte und Lyrik, aber auch hybride Textformen, die weder der Trennung zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur folgen, noch sich einem der klassischen literarischen Genres zuordnen lassen. (Ebd., S. 87) [25]
Durch ihre Texte setzten sie der Sprachlosigkeit der Schwarzen Community ein vorläufiges Ende und schrieben sich in den herrschenden Diskurs ein.
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3.2 Der Roman "In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel" (2020) von Samira El-Maawi im Literaturunterricht
Auch für die Schriftstellerin Samira El-Maawi, geboren 1980 im Kanton Zürich, ist das literarische Schreiben ein Mittel der Selbstermächtigung. Als „Schwarze Schweizerin“ (Wegelin 2020) [26] repräsentiert sie nicht nur die in der deutschsprachigen Schweizer Gegenwartsliteratur raren Positionen Schwarzer, sondern setzt sich fiktional auch mit den Alltags- und strukturellen Rassismen und ihrem Einfluss auf die Identitätsfindungsprozesse junger SchweizerInnen auseinander. In ihrem Debütroman In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel gibt sie aus der Perspektive einer 10-jährigen Ich-Erzählerin einen Einblick in die Beziehung und die Lebenswirklichkeiten einer Schweizerin und ihres aus Sansibar stammenden Mannes in der Schweiz der 1980er Jahre. Sie trotzen den Anfeindungen und Diskriminierungen ihres Umfelds seit über zehn Jahren, doch als der gelernte Chemiker seine Stelle in einer Kantine und in Folge seinen Lebensmut verliert, entfremden sie sich zunehmend voneinander. Der Roman fokussiert die Fremdheitserfahrungen des Vaters und seiner beiden Töchter, ihren Umgang mit ausgrenzendem und diskriminierendem Verhalten und die individuellen Strategien der Töchter, trotz der wachsenden Abschottung des Vaters („Mein Vater baut sich eine Insel mitten in der Schweiz.“, El-Maawi 2020, S. 32, Hervorh. i. O.) [27], ein Zugehörigkeitsgefühl zu der Schweizer Gesellschaft zu entwickeln.
Zu den zentralen Schreibstrategien des Romans im Hinblick auf den Themenkomplex Rassismus, die ich für die Behandlung im Literaturunterricht vorschlagen möchte, gehören die Entlarvung rassistischer Äußerungen aus der Perspektive eines Kindes, die mit internationalen historischen Wissensbeständen verflochtene Darstellung von Diskriminierung und Rassismus in der Schweiz der 1980er Jahre und die Schilderung von Strategien und Maßnahmen, mit denen der Einzelne auf Ausgrenzung und Zurücksetzung reagieren kann. Der Romaneinstieg bietet alle drei miteinander verschränkt und lautet wie folgt:
Meine Mutter ist stolz, wenn sie über die Heimat meines Vaters spricht. Ich glaube, weil es etwas Exotisches ist, jemanden aus Afrika in der Schweiz zu haben.
Wie die Kokosnüsse in der Migros, die sind auch etwas Spezielles, weil sie nicht bei uns wachsen.
Mein Vater riss seine Wurzeln in Sansibar heraus und pflanzte sie wieder in der Schweiz ein. Hier kann er weiterwachsen.
»Langsam, aber sicher verwurzelt er sich«, meint meine Mutter.
»Wie lange geht es denn, bis sich eine Pflanze ganz verwurzelt?«, frage ich sie.
»Das kommt auf die Pflanze drauf an.«
»Und auf die Erde«, fügt meine Schwester hinzu.
(El-Maawi 2020, S. 9) [27]
Der Vater der Erzählerin wird hier durch die Rede ihrer Familienmitglieder über ihn eingeführt, er selbst ist nicht anwesend und kann, wie im gesamten Roman, nicht direkt für sich sprechen. Er wird auch nicht als selbstbewusstes Subjekt präsentiert, sondern durch Verdinglichung alterisiert: Er wird mit Kokosnüssen im Supermarkt und mit einer Pflanze, die sich verwurzeln muss, gleichgesetzt. Gleichzeitig entlarvt seine Tochter durch den seine Person herabsetzenden Vergleich mit Kokosnüssen und die darin steckende Ironie die Einstellungen seiner Frau. Sie ist eine emanzipierte Schweizerin, auf die der afrikanische Kontinent eine besondere Anziehungskraft ausübt. Ihre offene und wohlwollende Haltung, mit der sie auch in ihrem Umfeld aufklärerisch, als „Afrikaspezialistin“ (ebd., S. 52) [27], auftritt, entpuppt sich im Laufe des Romans als der ‚traditionell‘ zu nennende exotisierende Blick auf den Anderen, den Edward Said in seiner Studie Orientalismus (1978, 2009) [28] eindrücklich beschrieben hat. Ihr Mann, auf den sie ihre Sehnsüchte projiziert, fasziniert sie vor allem, weil er ein Repräsentant Afrikas, ein Einheimischer aus Sansibar, ist. Die historisch verbürgte Sprache des Rassismus wird in dieser Textpassage zudem mit dem aktuellen Integrationsdiskurs verknüpft, indem die gesellschaftlich geforderte Anpassung als natürlicher Prozess der ‚Verwurzelung‘ bezeichnet wird. Präsentiert wird zum Schluss auch eine Strategie der Schwester, mit Zuschreibungen umzugehen. Sie entlarvt die einseitige Forderung der Schweizer Gesellschaft nach Integration der Zugewanderten als diskriminierend, da deren erfolgreiche oder eingeschränkte Teilhabe in ihrem Verständnis auch von der Bereitschaft der Aufnehmenden – hier der „Erde“ – abhängig ist.
Formal gehen die Schreibstrategien mit einer Zersplitterung der Romanform einher, wobei zwischen den einzelnen Textteilen eine rhizomatische Verbindung besteht. Die ‚Leerstellen‘ erlauben Vieldeutigkeit und zwingen die Leserschaft, über das kulturell und sozial Erwartbare hinauszudenken, die Irritationen des Textes, wie etwa die Integration sprachlicher Elemente in Swahili oder die durch Wiederholungen und Variationen einzelner Textstellen erzeugte Textrhythmus, machen ästhetische Polyphonien der Gegenwartsliteratur erfahrbar.
4 Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass inzwischen die von Steven Vertovec diagnostizierte gesellschaftliche Superdiversität (vgl. Vertovec 2012) [29] nicht nur im Literaturbetrieb der deutschsprachigen Länder abgebildet ist, sondern in den Texten der jüngeren AutorInnen längst auch der Umgang mit den hochgradig heterogenen Erfahrungsmustern der Realität fiktional eingeübt wird. Sie bringen gravierende gesellschaftliche Umbrüche mit sich, die in den modernen westlichen Gesellschaften trotz postulierter Pluralität nur als Krise begriffen und immer öfter auch rassistisch abgewehrt werden. „Rassismus hat“, um noch einmal mit Ludger Hoffmann (2020, S. 46) [23] zu sprechen, „eine lange Geschichte. Er behindert Demokratie, friedliches Zusammenleben, Kooperation und internationale Kommunikation“, so dass auch wir – die VertreterInnen der Sprach- und Literaturwissenschaft – aufgerufen sind, diesen Entwicklungen für eine lebenswerte Zukunft entschieden entgegenzutreten.
References
[1] Vanderheiden, Elisabeth; Mayer, Claude-Hélène (Hg.) (2014): Handbuch Interkulturelle Öffnung. Grundlagen, Best Practice, Tools. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.[2] Mecheril, Paul; Castro Varela, Maria do Mar; Dirim, Inci; Kalpaka, Annita; Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik. Weinheim [u.a.]: Beltz.
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[6] Czollek, Max (2018): Desintegriert euch! 2. Aufl. München: Hanser.
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[9] Aydemir, Fatma; Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.) (2019): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein.
[10] Foroutan, Naika; Hensel, Jana (2020): Die Gesellschaft der Anderen. Berlin: Aufbau.
[11] Gümüşay, Kübra (2021): Sprache und Sein. 14. Aufl. Berlin: Hanser.
[12] Mannitz, Sabine; Schneider, Jens (2014): Vom „Ausländer“ zum „Migrationshintergrund“: Die Modernisierung des deutschen Integrationsdiskurses und seine neuen Verwerfungen. In: Boris Nieswand und Heike Drothbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer, S. 69–96.
[13] Glick Schiller, Nina; Wimmer, Andreas (2002): Methodological Nationalism and Beyond: Nation-State Building, Migration and the Social Science. In: Global Networks 2 (4), S. 301–334.
[14] Römhild, Regina (2014): Diversität?! Postethnische Perspektiven für eine reflexive Migrationsforschung. In: Boris Nieswand und Heike Drothbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer, S. 255–270.
[15] Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[16] Foroutan, Naika (2018): Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften. In: Marc Hill und Erol Yildiz (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld: transcript, S. 15–27.
[17] Melter, Claus; Mecheril Paul (Hg.) (2011): Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. 2. Aufl. Schwalbach: Wochenschau.
[18] Fereidooni, Karim; Simon, Nina (Hg.) (2020): Rassismuskritische Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung. Wiesbaden: Springer.
[19] Dirim, Inci; Mecheril, Paul (2018): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[20] Leskovec, Andrea (2011): Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt: WBG.
[21] Babka, Anna; Dunker, Axel (Hg.) (2013): Postkoloniale Lektüren. Perspektivierung deutschsprachiger Literatur. Bielefeld: Aisthesis.
[22] Şenocak, Zafer (2001): Welcher Mythos schreibt mich? In: Zafer Senocak: Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation. München: Babel, S. 97–103.
[23] Hoffmann, Ludger (2020): Zur Sprache des Rassismus. In: Sprachreport 36 (1), S. 40–47. Online verfügbar unter https://pub.ids-mannheim.de/laufend/sprachreport/sr20.html, zuletzt geprüft am 15.01.2021.
[24] Riesz, János (2000): Autor/innen aus dem schwarzafrikanischen Kulturraum. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: Metzler.
[25] Kron, Stefanie (2009): Afrikanische Diaspora und Literatur Schwarzer Frauen in Deutschland. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Migrationsliteratur? Eine neue deutsche Literatur? Online verfügbar unter https://heimatkunde.boell.de/index.php/de/2009/02/18/afrikanische-diaspora-und-literatur-schwarzer-frauen-deutschland, zuletzt geprüft am 15.01.2021.
[26] Wegelin, Anna (Tagblatt vom 17.11.2020): Ein Buch über Alltagsrassismus: Weil sie weiss, wie es ist, anders auszusehen. Online verfügbar unter https://www.tagblatt.ch/kultur/ein-buch-uber-alltagsrassismus-weil-sie-weiss-wie-es-ist-anders-auszusehen-ld.1280283, zuletzt geprüft am 20.05.2021.
[27] El-Maawi, Samira (2020): In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel. Roman. Basel: Zytglogge.
[28] Said, Edward W. (2009): Orientalismus. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
[29] Vertovec, Steven (2012): Superdiversität. In: Heimatkunde. Migrationspolitisches Portal. Online verfügbar unter https://heimatkunde.boell.de/de/2012/11/18/superdiversitaet, zuletzt geprüft am 15.01.2021.