Cover: Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Bayrak, Cana; Frank, Annika; Heintges, Jessica; Sotkov, Mihail


Gespräche in Erzähltexten linguistisch analysieren – am Beispiel eines Gesprächs aus Thomas Manns Buddenbrooks

Daniel Düring 1
Tim Langenbach 2


1 Dortmund
2 Dortmund

1 Literatur linguistisch analysieren

 

In diesem Beitrag diskutieren wir Ansätze zur Analyse einer literarischen Inszenierung eines Gesprächs aus linguistisch-pragmatischer Perspektive. Auf dieser Basis wird der Versuch unternommen, exemplarisch didaktische Potentiale zu skizzieren, die sich durch eine funktional-sprachanalytische Methodik für das Verständnis literarischer Texte, genauer der Darstellung dialogisch-diskursiver Elemente innerhalb erzählender Strukturen, im Deutschunterricht der Sekundarstufe II erschließen lassen. Die literarische Textgrundlage bildet ein Auszug aus Thomas Manns Roman Buddenbrooks, in dem ein Gespräch zwischen den Figuren Bendix Grünlich und Antonie (Tony) Buddenbrook wiedergegeben wird. In diesem Gespräch macht Bendix Grünlich Tony Buddenbrook einen Heiratsantrag, den sie aber entgegen der Erwartungshaltung des Antragstellers (zunächst) nicht annimmt.

Thomas Manns literarisches Werk ist ein fester Bestandteil des schulischen Literaturkanons.1 Der von uns für die Analyse ausgewählte Textauszug ist in einem aktuellen Schulbuch für das Fach Deutsch in der gymnasialen Oberstufe enthalten2, und zwar als Analysebeispiel für die didaktisch-methodische Konkretisierung des im nordrhein-westfälischen Kernlehrplan verankerten inhaltlichen Schwerpunktes Gesprächsanalyse. Konkret wird in den curricularen Vorgaben von den Lernenden die Kompetenz erwartet, „die Darstellung von Gesprächssituationen in literarischen Texten unter Beachtung von kommunikationstheoretischen Aspekten analysieren“ zu können (Kernlehrplan NRW, Gymnasium/Gesamtschule. Deutsch 2014, S. 23) [1]. Aus dieser Kompetenzerwartung ergeben sich möglicherweise Chancen für eine integrative Analysemethodik, die sich auf literaturwissenschaftliche und linguistisch-diskursanalytische Ansätze und Perspektiven berufen kann.

Einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt für unsere Überlegungen stellen Beiträge zum Themenbereich Linguistik und Poetik dar, die in den letzten Jahren im Kontext der Funktionalen Pragmatik entstanden sind (vgl. Redder 2000a/b; Redder 2011; Thielmann 2017; Hoffmann 2012, 2014, 2018a/b; Hoffmann/Selmani 2014) [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10]. Hoffmann formuliert zum Zusammenhang von literaturwissenschaftlicher und linguistischer Herangehensweise: „Der Mehrwert literarisch reflektierter Formgebung erschließt sich einer erweiterten funktionalen Sprachanalyse“ (Hoffmann 2014, S. 3) [7]. Entsprechend wird „für eine Einheit des Faches plädiert, in der Grammatik und literarisches Verstehen nicht länger getrennte Welten sind.“ (Ebd.; vgl. hierzu auch Hoffmann/Selmani 2014, S. 5) [7] [10] Nach Hoffmann „sollen unter dem Vorzeichen der in den sprachlichen Mitteln angelegten Funktionalität neue Perspektiven der Textarbeit eröffnet werden“ (Hoffmann 2014, S. 3) [7]. 

Bezogen auf den von uns ausgewählten literarischen Textauszug fragen wir folglich, inwieweit ein in ein narratives (Groß-)Format integriertes Gespräch realitätsnahe dialogische Strukturen und Diskurse widerspiegeln kann, um als literarische Inszenierung den rezipientenseitigen Verstehensprozess zu unterstützen. Das hier wiedergegebene Gespräch ist Teil einer mit literarischen Mitteln umgesetzten Inszenierung, deren – für das Verstehen notwendige – Hintergrundfolie die sozialen Konventionen und Normen des Bürgertums innerhalb der entsprechenden historischen Konstellation bilden.

 

 

2 Das literarische Beispiel: ein Heiratsantrag

 

Im Zentrum des Analysebeispiels steht das sprachliche Handlungsmuster Heiratsantrag, das – als abgeleitete und überformte Variante – auf dem alltäglichen Handlungsmuster Frage-Antwort basiert (grundlegend zu sprachlichen Handlungsmustern vgl. Ehlich/Rehbein 1979) [11]. Dargestellt werden im Textauszug die verbale Kommunikation zwischen den Figuren, das außersprachliche Handeln sowie die Gedanken der Figur Tony, anhand derer Lesende die sprachliche Planung nachvollziehen können. Die Distanz zwischen den Figuren, die der Antragsteller zu überbrücken versucht, wird durch die Erzählweise verdeutlicht, wobei im Textauszug seitens der Erzählerfigur die Perspektive der Figur Tony eingenommen wird. Einblicke werden nur in ihre Gedanken gegeben („Mein Gott, musste gerade ihr dies begegnen! Sie hatte sich so eine Werbung nicht vorgestellt.“; Mann 2012, S. 170) [12]. Lesende nehmen wahr, was sie wahrnimmt („Tony starrte in sein rosiges Gesicht, auf die Warze an seiner Nase, und in seine Augen, die so blau waren wie diejenigen einer Gans.“; ebd.) [12], der Antragsteller wird distanzierend „Herr Grünlich“ genannt.

Der Zweck des Handlungsmusters Heiratsantrag, das auf dem alltäglichen Frage-Antwort-Muster basiert, besteht darin, ausgehend von der sprecherseitigen eigenen Versicherung des Wunsches, die andere Person zu heiraten, die angesprochene Person zu einer entsprechenden Erklärung zu bewegen. Das Handlungsmuster ist dann geglückt, wenn die Person, der der Antrag gemacht wird, die zentrale Frage positiv beantwortet und somit diskursiv Gewissheit hergestellt wird. Explizitheit ist dabei ein wichtiges Charakteristikum der komplementären, auf beide Aktanten verteilten Sprechhandlungen des Musters, das in einem beiderseitigen Heiratsversprechen als sprachlich fixierte, für beide Seiten verbindliche Absichtsübereinkunft resultiert. Als Folge des angenommenen Heiratsantrags ergab sich in der Regel ein sog. Verlöbnis, das als Eheversprechen im 19. Jh. unter Umständen als Vertragsschluss mit ggf. sich ergebenden Schadenersatzansprüchen – anders als heute – einklagbar war. Der Heiratsantrag war insbesondere im (groß-)bürgerlichen Milieu, das hier die soziale Hintergrundfolie des Romans bildet, eine hochgradig ritualisierte und damit institutionalisierte Form der Kommunikation und Teil einer durch soziale Normen geprägten Abfolge von festgelegten Schritten der sukzessiven Eheanbahnung. Die Ablehnung des Antrags ist zwar innerhalb des hier zugrundeliegenden Handlungsmusters möglich, sie ist allerdings mit einem erheblichen Gesichtsverlust für den Antragsteller verbunden.

 

 

3 Textanalyse

 

Hoffmann beschreibt (im Zusammenhang mit der Untersuchung eines Textes von Franz Kafka) die pragmatische Analyse literarischer Texte als Herangehensweise, bei der „ein Verstehensprozess modelliert [wird], der sich strikt an den grammatischen Manifestationen orientiert“ (Hoffmann 2012, S. 203) [6]. Diese Herangehensweise charakterisiert er als „ein close reading, das maximale Nähe zur sprachlichen Gestalt, den darin manifesten funktionalen Prozeduren und so zu einer basalen Bedeutung des Textes sucht“ (ebd.) [6]. Anlehnend an diese Analysekonzeption sollen nachfolgend im Rahmen einer funktional-pragmatisch angelegten linguistischen Analyse exemplarischer Textstellen Form-Funktionszusammenhänge der Inszenierung des Gesprächs zwischen den Figuren herausgearbeitet werden (für einen Überblick über die funktional-pragmatische Diskurs- und Textanalyse vgl. Ehlich 2007a/b; Rehbein 2001) [13] [14] [15].

Zunächst wird die Vorgeschichte (im Sinne von Rehbein 1977) [16] des im Textauszug dargestellten Heiratsantrags wiedergegeben:

Bendix Grünlich hat nach mehrmaligen Besuchen im Haus der Familie Buddenbrook, bei denen Antonie sich jedes Mal ihm gegenüber betont abweisend verhalten hat, ihren Vater um Erlaubnis gebeten, den Heiratsantrag zu machen. Seitens des Vaters, der eine Heirat aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen – Grünlich gilt als angesehen, wohlhabend und geschäftlich erfolgreich – befürwortet, ist ein „überaus diplomatischer Brief“ (Mann 2012, S. 106) [12] an den Antragsteller gesandt worden. Dem für die Analyse ausgewählten Textabschnitt, der nachfolgend in Auszügen (in fortlaufend nummerierte Handlungssegmente gegliedert) wiedergegeben wird, geht unmittelbar das für Antonie Buddenbrook überraschende Eintreten von Herrn Grünlich voraus.

 

Analysebeispiel: Thomas Mann: Buddenbrooks

 

(1) „Konnte ich länger warten… (2) Musste ich nicht hierher zurückkehren?“, (3) fragte er eindringlich. (4) „Ich habe vor einer Woche den Brief Ihres lieben Herrn Vaters erhalten, diesen Brief, der mich mit Hoffnung erfüllt hat! (5) Konnte ich noch länger in halber Gewissheit verharren, Fräulein Antonie? (6) Ich hielt es nicht länger aus… (7) Ich habe mich in einen Wagen geworfen… (8) Ich bin hierher geeilt… (9) Ich habe ein paar Zimmer im Gasthofe Stadt Hamburg genommen… (10) und da bin ich, Antonie, um von Ihren Lippen das letzte, entscheidende Wort in Empfang zu nehmen, das mich glücklicher machen wird, als ich es zu sagen vermag!“

(11) Tony war erstarrt; (12) ihre Tränen traten zurück vor Verblüffung. (13) Das war also die Wirkung des vorsichtigen väterlichen Briefes, der jede Entscheidung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben hatte! – (14) Sie stammelte drei- oder viermal: (15) „Sie irren sich. – (16) Sie irren sich…“

(17) Herr Grünlich hatte einen Armsessel ganz dicht an ihren Fenstersitz herangezogen, er setzte sich, er nötigte auch sie selbst, sich wieder niederzulassen, und während er, vorübergebeugt, ihre Hand, die schlaff war vor Ratlosigkeit, in der seinen hielt, fuhr er mit bewegter Stimme fort: (18) „Fräulein Antonie… Seit dem ersten Augenblick, seit jenem Nachmittage… (19) Sie erinnern sich jenes Nachmittages? … (20) als ich zum ersten Mal im Kreise der Ihrigen eine so vornehme, so traumhaft liebliche Erscheinung erblickte… ist Ihr Name mit unauslöschlichen Buchstaben in mein Herz geschrieben…! (21) Er verbesserte sich und sagte: (22) „gegraben“. (23) „Seit jenem Tage, Fräulein Antonie, ist es mein einziger, mein heißer Wunsch, Ihre schöne Hand fürs Leben zu gewinnen, und was den Brief Ihres lieben Herrn Vaters mich nun hoffen ließ, das werden Sie mir nun zur glücklichen Gewissheit machen… nicht wahr?! (24) Ich darf mit Ihrer Gegenneigung rechnen… Ihrer Gegenneigung sicher sein!“ (25) Hierbei ergriff er auch mit der anderen Hand die ihre und blickte ihr tief in die ängstlich geöffneten Augen. […] (26) Tony starrte in sein rosiges Gesicht, auf die Warze an seiner Nase und in seine Augen, die so blau waren wie diejenigen einer Gans.

(27) „Nein, nein!“ (28) brachte sie rasch und angstvoll hervor. (29) Hierauf sagte sie noch: (30) „Ich gebe Ihnen nicht mein Jawort!“ (31) Sie bemühte sich, fest zu sprechen, aber sie weinte schon.

(32) „Womit habe ich dieses Zweifeln und Zögern Ihrerseits verdient?“, (33) fragte er mit tief gesenkter und fast vorwurfsvoller Stimme. (34) „Sie sind ein von liebender Sorgfalt behütetes und verwöhntes Mädchen… (35) aber ich schwöre Ihnen, ja ich verpfände Ihnen mein Manneswort, dass ich Sie auf Händen tragen werde, dass Sie als meine Gattin nichts entbehren werden, dass Sie in Hamburg ein würdiges Leben führen werden…“

(36) Tony sprang auf, sie befreite ihre Hand, und während ihr Tränen hervorstürzten, rief sie völlig verzweifelt: (37) „Nein… nein! (38) Ich habe ja nein gesagt! (39) Ich gebe Ihnen einen Korb, (40) verstehen Sie das denn nicht, Gott im Himmel?!“

(41) Allein auch Herr Grünlich erhob sich. (42) Er trat einen Schritt zurück, (43) er breitete die Arme aus, indem er ihr beide Handflächen entgegenhielt, und sprach mit dem Ernst eines Mannes von Ehre und Entschluss: (44) „Wissen Sie, dass ich mich nicht in dieser Weise beleidigen lassen darf?“

(45) „Aber ich beleidige Sie nicht, Herr Grünlich“, (46) sagte Tony, denn sie bereute, so heftig gewesen zu sein. (47) Mein Gott, musste gerade ihr dies begegnen! (48) Sie hatte sich so eine Werbung nicht vorgestellt. (49) Sie hatte geglaubt, man brauche nur zu sagen: (50) „Ihr Antrag ehrt mich, aber ich kann ihn nicht annehmen“, damit alles erledigt sei…

(51) „Ihr Antrag ehrt mich“, (52) sagte sie, so ruhig sie konnte; (53) „aber ich kann ihn nicht annehmen… (54) So, und ich muss Sie nun verlassen, (55) entschuldigen Sie, (56) ich habe keine Zeit mehr.“

(57) Aber Herr Grünlich stand ihr im Wege.

(58) „Sie weisen mich zurück?“, (59) fragte er tonlos… (60) „Ja“, (61) sagte Tony; und aus Vorsicht fügte sie hinzu: (62) „Leider…“

[…]

(63) „Sie wollen mich nicht töten?“ (64) fragte er wieder, und sie sagte noch einmal in einem beinahe mütterlich tröstenden Ton: (65) „Nein – nein…“

(66) „Das ist ein Wort!“, (67) rief Grünlich und sprang auf die Füße. (68) Sofort aber, als er Tonys erschrockene Bewegung sah, ließ er sich noch einmal nieder und sagte ängstlich beschwichtigend: (69) „Gut, gut… (70) sprechen Sie nun nichts mehr, Antonie! (71) Genug für diesmal, (72) ich bitte Sie, von dieser Sache… (73) Wir reden weiter davon… (74) Ein anderes Mal… (75) Ein anderes Mal… (76) Leben Sie wohl! —“ (Mann 2012, S. 107 ff.) [12]

 

Zunächst steht Grünlich am Anfang des Gesprächs – und damit unmittelbar vor der Realisierung der initialen Musterposition des eigentlichen Antrags – vor der Herausforderung, sein für Tony unerwartetes erneutes Erscheinen nachvollziehbar begründen zu müssen; die neue Handlungskonstellation muss plausibel aus der Vorgeschichte abzuleiten sein. Sein Erscheinen zum Zweck der Eröffnung einer ‚face-to face‘-Diskurskonstellation stellt er als logisches, nicht hinterfragbares Resultat einer Ereigniskette, der der Heiratsantrag folgen muss, dar. Tonys konsequente Reserviertheit seinen Werbungsversuchen gegenüber findet dabei keine Erwähnung. Die seitens des Antragstellers als günstig interpretierte Ausgangskonstellation für das Handlungsmuster Heiratsantrag wird mit dem Brief ihres Vaters begründet („dieser Brief, der mich mit Hoffnung erfüllt hat“; 4), („in halber Gewissheit“; 5). Die Verkettung rhetorischer Fragen (1, 2), von der Erzählerfigur als „eindringlich“ (3) charakterisiert, erfährt eine Steigerung durch die Kombination mit der vokativischen Anrede, durch die eine expeditive (direkt lenkend in die Hörer-Handlungsplanung eingreifende) Prozedur3 vollzogen wird, mit der die Adressierte in die gedankliche Auseinandersetzung mit dem propositionalen Gehalt der Äußerung (‚nicht länger warten können‘) einbezogen wird. Grünlich verbindet äußerungsübergreifend die handlungsraumbezogenen Modalverben (vgl. Redder 1984) [17] können und müssen mittels einer zögerlichen, schwebenden Intonation, die im Text durch grafische Auslassungszeichen („...“) angedeutet wird. Handlungsmöglichkeiten, die Alternativen zur Vorgehensweise des Sprechers dargestellt hätten, werden mittels einer dynamischen Handlungsraumfestlegung (nicht können...müssen) als unplausibel und nicht den sozialen Konventionen entsprechend bewertet. Diese Bewertung wird als beiderseits geteilt vorausgesetzte Wissensbasis etabliert.

Die Handlungsmöglichkeit ‚länger warten‘ wird, darin besteht die illokutive Qualität der rhetorischen Frage, zum Schein zur adressatenseitigen Prüfung vorgelegt. Die Entscheidung für die Modalität des ‚Nicht-Könnens‘ wird sprecherseitig als einzig nachvollziehbare qualifiziert. Dies hängt mit der für rhetorische Fragen charakteristischen taktischen Verwendungsweise des Fragemodus zusammen (vgl. Hoffmann 2016, S. 527) [18], die auf den Zweck ausgerichtet ist, „den Hörer zu einer Wissensabfrage zu veranlassen, die allgemein Gewusstes, Erschließbares oder Evidentes zutage fördert und eine Antwort erübrigt“ (ebd.) [18]. In (7-9) folgt (an den symbolisch aktualisierten Sachverhalt des ‚Nicht-Warten-Könnens‘ anknüpfend) die Wiedergabe der engeren Vorgeschichte des Gesprächs, dargestellt mit sprecherdeiktischer Aktantenorientierung (ich), im Bereich der Verben symbolisch verdeutlichter Hast (geworfen, geeilt) und Partizipien II als Markern für Handlungsresultate. Mit dem eine Fortsetzungserwartung auslösenden Konjunktor und wird in (10) die ‚Ankunft im Diskurs‘ („und da bin ich“) als konstellativer Ausgangspunkt für die zentrale Sprechhandlung an die Wiedergabe der Handlungskette angeschlossen. Der Sprecher orientiert zeigend auf die relevante Diskurssituation und auf sich selbst als Handelnder. Der Vollzug der zentralen Musterposition der Zusage („das letzte, entscheidende Wort“) wird vorausgesetzt, als etwas, das er „von Ihren Lippen“ „in Empfang“ nimmt. Dabei wird die sprecherseitige Gewissheit in Bezug auf den gewünschten Ausgang und die emotionale Wirkung mit modalem werden (vgl. Redder 1999) [19] ausgedrückt.

Die unmittelbare Präsenz des Sprechers wird in (10) durch das deiktische Adverb da markiert: Relevant ist die räumlich-zeitliche Kopräsenz der beiden Aktanten, da das anschließende Handlungsmuster Heiratsantrag konventionell der mündlich-diskursiven Form bedarf. Grünlich verknüpft sein Erscheinen direkt mit seinem persönlichen Handlungsziel, das hier dem Zweck des Handlungsmusters, der verbindlichen, wechselseitigen Absichtserklärung, die Ehe eingehen zu wollen, entspricht („da bin ich, Antonie, um […] das letzte, entscheidende Wort in Empfang zu nehmen“) (19). Die von ihm – im Zusammenhang mit offenbar präsuppositiv vorausgesetzten gesellschaftlichen Konventionen im gehobenen Bürgertum des 19. Jh. – erwartete explizite Einwilligung in die Ehe ist die nächste, musterfinale Position, wie Grünlich in seiner Formulierung deutlich heraushebt.

Tony Buddenbrook wendet sich in (27) entschieden gegen die seitens des Antragstellers beanspruchte Gültigkeit der in (24) ausgedrückten Gewissheit. Die Wiederholung des Responsivs verdeutlicht dabei in Realisierung einer Malfeldprozedur (s.o.) die sich steigernde Emotionalität, die vom Erzähler auch handlungsbeschreibend dargestellt wird (29, 31). Darauf folgt in (30), zur Absicherung des hörerseitigen Verständnisses des Handlungscharakters, eine explizite Realisierung der Verweigerung der Zustimmung. Diese erweist sich allerdings nur als Versuch des Handlungsmusterabschlusses, weil Herr Grünlich eine Ablehnung des Antrags nicht wahrhaben will und eine andere Interpretation des Handlungscharakters – nämlich Ausdruck von „Zweifeln und Zögern“ (31) – behauptet. An dieser für den Gesprächsablauf markanten Stelle erfährt die literarische Inszenierung des Gesprächs eine Steigerung, analog zur Steigerung der dargestellten Handlung. Zur erzählerischen Vorbereitung der Wiedergabe ihrer Äußerungen werden in (36) das außersprachliche Handeln („Tony sprang auf, sie befreite ihre Hand“), die unkontrollierbare emotionale Regung („und während ihr Tränen hervorstürzten“) und der Äußerungsmodus („rief sie völlig verzweifelt“) fokussiert. Die erzählerische Verdichtung der Darstellung von Fassungslosigkeit kulminiert in den wiedergegebenen Äußerungen (37–40): Die malende Wiederholung des Responsivs („Nein, nein!“) im Zusammenhang mit der interpretativ erschließbaren Intonation (markiert mit dem Ausrufzeichen) macht die starke emotionale Regung deutlich. Auf die Erklärung der Explizitheit der sprachlichen Form („Ich habe nein gesagt!“) folgt – als weitere Steigerung – eine Benennung der sprachlichen Handlung („Ich gebe Ihnen einen Korb“). In den Äußerungen (45) bis (62) wird zusätzlich eine weitere Dimension des mit literarischen Mitteln präsentierten Gesprächs erkennbar; über die Darstellung der verbalen Äußerungen und außersprachlichen Handlungen hinausgehend werden durch die Erzählerfigur Einblicke in mentale Planungs- und Bewertungsprozesse gegeben. Tony weist den Vorwurf der Beleidigung zurück (45), gleicht mental den Gesprächsverlauf mit ihren Erwartungen und dem zugrundeliegenden Musterwissen ab (46) und bewertet resümierend den bisherigen Diskursablauf: „sie bereute, so heftig gewesen zu sein“ (46), „musste gerade ihr dies begegnen“ (47). Die Deixis (dies) verweist dabei retrospektiv auf das im Rederaum Vorangegangene. Als funktional ähnlich kann in (48) die Verwendung der Aspektdeixis so betrachtet werden: Es wird auf einen spezifischen Aspekt der Eheanbahnung gezeigt, konkret auf den von Tony nicht erwarteten und aus ihrer Perspektive auch unbefriedigenden Gesprächsverlauf. Sie revidiert zugleich ihre Einschätzung bezüglich einer geeigneten musterschließenden Formulierung, die beiden Aktanten die Gesichtswahrung ermöglicht hätte. Durch die Verwendung des Tempus Präteritumperfekt wird die Abgeschlossenheit der ursprünglichen Beurteilung, die nun nicht mehr aufrechterhalten werden kann, markiert, („hatte geglaubt“). Sie verbalisiert die Äußerung trotzdem, auch wenn sie längst erkannt hat, dass ein Musterabschluss („erledigt“) nun nicht mehr ohne weiteres möglich ist und sie nur noch entschuldigend auf angebliche Zeitgründe verweisen kann. Damit hofft sie zunächst, den Diskurs gesichtswahrend beenden zu können, um eine offensichtliche Desavouierung des Antragstellers nicht eingestehen zu müssen. Da dieser jedoch Explizitheit bezüglich der illokutiven Qualität ihrer Äußerungen fordert („Sie weisen mich zurück?“), gerät Tony in eine Engeposition: Sie kann die Bestätigungsfrage nur noch mit dem Responsiv ja positiv beantworten. Daran direkt anknüpfend, syntaktisch als kommunikative Minimaleinheit realisiert, wird die Modalpartikel leider geäußert, die Tonys nachgeschobene Bewertung der Zurückweisung des Heiratsantrags (‚die Abweisung ist zu bedauern‘) zum Ausdruck bringt, und zwar hinsichtlich einer beiderseits geteilten, gesichtswahrenden Beurteilung des bisherigen Diskurses.

Der weitere (im Rahmen der Analyse des Beispiels z.T. nicht wiedergegebene) Handlungsverlauf entwickelt sich insofern zu Grünlichs Gunsten, als er erwirkt, dass der Handlungsmusterabschluss aufgeschoben wird. Sein anfängliches Vorhaben, kurzfristig Gewissheit zu erhalten, gibt er auf und drängt auf einen Abbruch des Gesprächs („sprechen Sie nun nichts mehr, Antonie!“), um das Muster für eine spätere Zusage geöffnet zu halten (73-75: „Wir reden weiter davon… Ein anderes Mal… Ein anderes Mal“).

 

 

4 Zusammenfassung und Ausblick

 

Im Rahmen der Erzählung kommt der ausführlichen Darstellung des hier analysierten Gesprächs die Funktion zu, ein innerhalb des Romans besonders relevantes Geschehen – die Realisierung des Heiratsantrags – szenisch zu vergegenwärtigen und damit eine leserseitige Nacherlebbarkeit im Vorstellungsraum zu ermöglichen. Diese szenische Vergegenwärtigung (vgl. Hoffmann 2018c, S. 218 f.) [20] leistet darüber hinaus eine Ausschärfung der Charakterisierung der Figuren und ihrer Beziehung zueinander, insofern, als entsprechende Aspekte, die im Laufe der Erzählung bereits mittels verschiedener erzählerischer Mittel (Figurenrede, Handlungsweise, Beschreibung durch die Erzählerfigur, Charakterisierung aus der Perspektive anderer Figuren) deutlich gemacht worden sind, anhand der aufeinander bezogenen und erzählerseitig kommentierten sprachlichen Handlungen ‚plastisch‘ erfahrbar werden. Aspekte der Figurendarstellung (wie die Redeweise der Figur Grünlich) oder der Figurenbeziehung (wie die entschieden ablehnende Haltung der Figur Tony dem Antragsteller Grünlich gegenüber) können auf diese Weise besonders deutlich ‚vor Augen geführt werden‘.

Im Unterricht könnten, über die Betrachtung der im Textauszug dargestellten Kommunikation hinausgehend, Besonderheiten der literarischen Inszenierung des Gesprächs thematisiert werden. Zentral ist dabei die Funktion der Erzählerfigur, die die sprachlichen Handlungen kommentiert und bewertet, wodurch auch satirische Überzeichnungen der Handlungsweisen der Figuren erkennbar werden. Wie bereits herausgestellt wurde, wird die Darstellung sprachlicher Handlungen, die auf eine Verengung der Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Musters abzielen („das werden sie mir zur [...] Gewissheit machen, nicht wahr?“) (24) mit der Darstellung paralleler außersprachlicher Handlungen verbunden („er nötigte auch sie selbst, sich wieder niederzulassen“) (18). Der nicht zuletzt durch soziale Konventionen begrenzte Handlungsraum Tonys, den Antrag ablehnen zu können, wird im Romanauszug aus zwei Perspektiven fokussiert: Durch die Wiedergabe eines Gesprächs, dessen zugrundeliegendes Handlungsmuster reflektiert werden kann, und durch die Darstellung der parallelen außersprachlichen Handlungen, mit denen Grünlich Tony ebenfalls zu beeinflussen versucht.

Im Zuge einer Analyse eines solchen literarischen Textauszugs im Unterricht erscheinen exemplarische Reflexionen der Zusammenhänge zwischen grammatischen Formen und Funktionen sinnvoll (vgl. Hoffmann/Selmani 2014, S.13 f.) [10]. Im Rahmen dessen könnte z.B. die Verwendung der handlungsraumbezogenen Modalverben (s.o.) in den Äußerungen der Figur Grünlich zu Beginn des Gesprächs (1, 2) genauer in den Blick genommen werden.

Von der Analyse des im Text dargestellten Gesprächs ausgehend bietet sich als ein weiterer Reflexionsschritt eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit sprachlichen Handlungsmustern als zweckgebundenen und gesellschaftlich fundierten Strukturen sprachlichen Handelns an. Dabei sollten dann auch authentische Daten mündlicher Kommunikation einbezogen werden, um z.B. Unterschiede zwischen alltäglichen Diskursen und in erzählenden literarischen Texten wiedergegebenen Gesprächen herausarbeiten zu können.

Ein weiterer Aspekt, der hier noch kurz angesprochen werden soll, betrifft die im literarischen Beispiel dargestellte konventionalisierte sprachliche Handlungsform des Heiratsantrags. Geht man davon aus, dass man es in diesem Text mit einem literarisch geprägten Blick auf eine tatsächliche historische Handlungspraxis in einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation zu tun hat, wäre zu fragen, inwiefern die Analyse der literarischen Inszenierung des Gesprächs Rückschlüsse auf historische Musterausprägungen ermöglicht, die einen Ausgangspunkt für hypothesenentwickelnde Zugänge bilden können. Damit sind historisch pragmatische Fragestellungen verbunden, deren Bearbeitung auf der Basis eines entsprechenden Textkorpus für eine weitere analytische Auseinandersetzung mit Manns Roman und anderen zeitgenössischen Texten lohnenswert erscheint.

 

 

1 Die Auseinandersetzung mit dem Roman Buddenbrooks wurde beispielsweise in NRW in den Jahren 2013 und 2014 im Rahmen der zentralen Abiturvorgaben für Deutsch-Leistungskurse erwartet.

2 Vgl. Schurf/Wagener (2015, S. 135 f.). [21]

3 In der Funktionalen Pragmatik werden sprachliche Prozeduren entsprechend ihrer Handlungscharakteristik verschiedenen sprachlichen Feldern zugeordnet: Zeigfeld (deiktische Prozeduren wie ich, hier), Symbolfeld (symbolische/nennende Prozeduren wie Baum, fahr-, schön), Operatives Feld (operative Prozeduren wie und, syntaktische Strukturen), Malfeld (malende; Einstellungen, Emotionen markierende Prozeduren wie Diminutivendungen (-chen), Wiederholung von Ausdrücken, intonatorische Markierung; vgl. Ehlich 2007a, S. 24). [13]


Referenzen

[1] Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2014): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Deutsch. Düsseldorf.
[2] Redder, Angelika (2000a): Prozedurale Texturen beim ‚Floß der Medusa‘ in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. In: OBST 61, S. 139–164.
[3] Redder, Angelika (2000b): Die Sprache der Bilder. Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands. In: Annegret Heitmann und Joachim Schiedermair (Hg.): Zwischen Text und Bild. Freiburg: Rombach, S. 65–91.
[4] Redder, Angelika, (2011): Fragmentierte Sprache als narrativer Stil – Peter Handke. In: Anne Betten und Jürgen Schiewe (Hg.): Sprache – Literatur – Literatursprache. Berlin: Schmidt, S.118–131.
[5] Thielmann, Winfried (2017): Topologisches und prozedurales Unterminieren – Beobachtungen zum ersten Satz von Franz Kafkas Roman Amerika. In: Yüksel Ekinci, Elke Montanari und Lirim Selmani: Grammatik und Variation. Festschrift für Ludger Hoffmann zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Synchron, S. 413–422.
[6] Hoffmann, Ludger (2012): Utopisches Erzählen. Franz Kafka, Wunsch, Indianer zu werden. In: Friederike Kern, Miriam Morek und Sören Ohlhus (Hg.): Erzählen als Form – Formen des Erzählens. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 201–210.
[7] Hoffmann, Ludger (2014): Grammatik und Stilistik: Textanfänge. In: Der Deutschunterricht (3), S. 4–16.
[8] Hoffmann, Ludger (2018a): Einen langen Satz schreiben. In: Martin Stingelin und Ludger Hoffmann (Hg.): Schreiben. Dortmunder Poetikvorlesungen von Felicitas Hoppe; Schreibszenen und Schrift – literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven. München: Fink, S. 177–200.
[9] Hoffmann, Ludger (2018b): Schreiben: Beschreiben. Mit Blick auf Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. In: Martin Stingelin und Ludger Hoffmann (Hg.): Schreiben. Dortmunder Poetikvorlesungen von Felicitas Hoppe; Schreibszenen und Schrift – literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven. München: Fink, S. 219–246.
[10] Hoffmann, Ludger; Selmani, Lirim (2014): Textkonstellation – eine linguistische Analyse am Beispiel eines Romananfangs (Michael Roes, Leeres Viertel). In: Der Deutschunterricht (2), S. 5–14.
[11] Ehlich, Konrad; Rehbein, Jochen (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, S. 243–274.
[12] Mann, Thomas (2012): Buddenbrooks. Frankfurt a. M.: Fischer.
[13] Ehlich, Konrad (2007a): Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse: Ziele und Verfahren. In: ders. (Hg.): Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 1, 3 Bde. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 9–28.
[14] Ehlich, Konrad (2007b): Funktionale Pragmatik – Terme, Themen und Methoden. In: ders. (Hg.): Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 1, 3 Bde. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 29–52.
[15] Rehbein, Jochen (2001): Das Konzept der Diskursanalyse. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik.Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 927–945.
[16] Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln. Stuttgart: Metzler.
[17] Redder, Angelika (1984): Modalverben im Unterrichtsdiskurs. Tübingen: Niemeyer.
[18] Hoffmann, Ludger (2016): Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: ESV.
[19] Redder, Angelika (1999): ‚Werden‘ – funktional-grammatische Bestimmungen. In: Angelika Redder und Jochen Rehbein (Hg.): Grammatik und mentale Prozesse. Tübingen: Stauffenburg, S. 295–336.
[20] Hoffmann, Ludger (2018c): Erzählen aus funktional-pragmatischer Perspektive. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2), S. 203–224.
[21] Schurf, Bernd; Wagener, Andrea(Hg.) (2015): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Nordrhein-Westfalen. Berlin: Cornelsen.