Cover: Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Bayrak, Cana; Frank, Annika; Heintges, Jessica; Sotkov, Mihail


Ökonomie und Gewissheit - Kürze, von zwei Seiten her betrachtet

Ludwig M. Eichinger 1


1 Mannheim

1 Selbstverständlich

 

Der Alltag ist schwer zu beschreiben, weil er so selbstverständlich daherkommt, dass nicht ständig explizit gemacht werden muss, was da geschieht und was man tut; und das oft auch nur schwer explizit gemacht werden könnte. Auf der anderen Seite kann unser sprachliches Tun nicht davon gelöst werden, dass wir in einer literalen Welt handeln, in der eine schriftsprachlich basierte Sprache und ihre Regularitäten auch in den Alltag hineinreichen – mitsamt ihrer Neigung zur Entbindung vom jeweiligen Kontext (vgl. Ágel 2015, S. 137 f. [1]; Eichinger 2017, S. 300 [2]). Wenn diese Sprache auf die Praktiken des Alltags trifft, wirken Strategien, die eine nachvollziehbare Reduktion sprachlich expliziter Äußerungen erlauben (vgl. Eichinger 2016, S. IX) [3]. Dabei geht es um das Verhältnis zu den Dingen, die Ludwig Wittgenstein die „wohlbekannten“ nennt, und von denen gerade gilt:

(1) „Für die Realität ist es doch ein Umweg, sich über die Sprache zu erklären.“ (Wittgenstein 1973, S. 165) [4]

In der praktischen Interaktion geht es dann darum, zu sehen, wieweit diese Gewissheiten unausgesprochen tragen, oder inwieweit die sprachliche Explizierung zum Abgleich des Wissens und Könnens nötig ist und genutzt wird.

 

2 Weglassen

 

Man muss nicht immer Alles sagen. Auch in einer literalen Welt gibt es Strategien und Techniken, bei denen systematisch eine Ökonomie des Weglassens herrscht (vgl. Zifonun 2017, S. 39 ff.) [5].

Oft reicht es, dass und wenn Dinge vorher schon hinreichend deutlich gesagt und explizit gemacht worden sind (vgl. Helmer 2017, S. 2, S. 4 ff.) [6]. Da wäre es zumindest auffällig, wenn man schon Gesagtes oder Geschriebenes einfach wiederholen würde. Es gibt allerlei Gelegenheiten für solche Analepsen; viele Frage-Antwort-Sequenzen funktionieren so (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 372 f.) [7]. Man sieht das am folgenden Beispiel, ebenso, wie man mit den Techniken anaphorischer Kohäsionsbildung differenzierte Information einbringen oder ein unklares Verständnis präzisieren kann.

(2) […] und ich glaubte ein Klirren zu hören. / Ein Klirren? / Nein, es war still. Vollkommen still. (Ransmayr 2006, S. 149) [8]

Es reicht hin, das in Frage Stehende (ein Klirren) aufzurufen, um eine funktionierende Frage-Äußerung zu erzeugen. Ob eine Existenz- oder Wahrnehmungsfrage, bleibt unterspezifiziert, da irrrelevant für die verneinende Antwort nein; und der steigernde Nachtrag mit vollkommen wird von der weitertragenden Struktur des Vorsatzes getragen. Wir können den hier intern ablaufenden Dialog nachvollziehen. Hier wie mehr noch in der gesprochenen alltäglichen Interaktion gilt, dass aufgrund der Erfahrungen aus den jeweiligen Situationstypen Elemente möglicher Verbalisierung als selbstverständlich vorausgesetzt gelten und damit sprachlich implizit bleiben können.

(3) Der Pilot blieb verschwunden. Keine Spuren, keine Reste. (Ransmayr 2006, S. 40) [8]

Man weiß gar nicht genau, was man ergänzen möchte; jedenfalls wiederum irgendein Existenzprädikat (oder, wenn man die Argumente in Bewegung lässt: man fand).

Ähnlich ist zum Beispiel auch im fingierten Selbstgespräch des Tagebuchschreibers gängig, auf die Nennung des auktorialen Ich-Subjekts ebenso zu verzichten wie auf andere entsprechende Finitheitsmerkmale, ja sogar auf ein satzkonstituierendes verbales Prädikat (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 416 [7]; Hoffmann 2018, S. 21 f. [9]), wie in dem folgenden Beispiel:

(4) Mit Reisiger zu Fuß gegen Zürich, dann im Wagen mit K. zur Stadt. (Th. Mann; zit. n. Eichinger 2004, S. 461) [10]

Elemente, die Bewegung in Raum und Zeit indizieren, scheinen besonders geeignet, ohne explizite verbale Stützung das gemeinte Sprachspiel zu indizieren. Oft ist es schwer, eine kommunikativ brauchbare Explizierung des implizit Angedeuteten zu finden. Auch dafür kann das Beispiel (4) stehen, gerade wegen der unterschiedlichen Bewegungsmodalität, die mit Adverbialia der Modalität mehr impliziert als expliziert wird – und daher perspektivisch in den Hintergrund rückt. Hinter einer expliziten Fassung, mit den Verben gehen bzw. fahren, stünde eine andere Perspektive (und eine andere Texthaltung):

Nebenher erwähnt sei als ein entsprechender Fall der – wesentlich mündlichere – sogenannte Absentiv, also eine Konstruktion vom Typ (5), wo im Unterschied zu (6) eine vorherige Wegbewegung vom Referenzpunkt eingebaut ist (vgl. Fortmann/Wöllstein 2013, S. 80) [11].

(5) […] ich bin hoffnungsfroh, dass der Kollege Gerster gleich kommt […] (Böhr […]: Er ist noch etwas essen) (Landtag Rheinland-Pfalz 28.01.1997) [12]

(6) Die [Partei; Anm. L. E.] ist heute vollzählig anwesend, niemand ist beim Essen. (Hamburgische Bürgerschaft 19.05.2011) [12]

Aber auch mit den „gewöhnlichen“ Direktionalia kann – im Sinne empraktisch bedingten Situationswissens (vgl. Zifonun/Hoffmann/ Strecker 1997, S. 421) [7] – eine fast beliebige „Pointierung“ der Handlung vorgenommen werden. Hier hat die Argumentkonstellation eine so hohe Prägekraft, dass das eigentliche Prädikat wie im folgenden Fall als eine Modalisierung der Bewegung erscheint.

(7) Dann krückte er durch seine Wohnung. (taz 24.02.2004, S. 16) [12]

Diese Möglichkeit lässt sich zudem stilistisch wie etwa in (8) nutzen, wo umgekehrt der syntaktische Ausbau eines Satzes mit dem Verb schreiben zu jeweils selbständigen Äußerungen führt, um letztlich durch die direktionale Bestimmung in einen Bewegungs-Rahmen eingebunden zu werden.

(8) […] und begann

       […]

       Zu schreiben: unsere Namen

      Unsere Namen

      mit dem Schaft meines Eispickels

      In den Schnee. (Ransmayr 2006, S. 62) [8]

 

Es ist die eine zwischen Skripturalität und Oralität schwankende Ebene, auf der vor dem Hintergrund unserer schriftsprachlichen grammatischen Erwartungen funktionale Kürze-Varianten eintreten. Man befindet sich also nicht in einer ganz anderen grammatischen Welt (vgl. Hoffmann 2018, S. 12 ff.) [9]. Gerade von direktionalen Bestimmungen gehen so starke Relationen aus, dass sie – als Präpositionalphrasen, adverbiale Fügungen oder entsprechende Nebensätze – eine Argumentstruktur entfalten, die ggf. durch ein (handlungsmodifizierendes) Finitum aktualisiert wird bzw. werden kann. Solch eine Struktur ähnelt stark den sogenannten Nominalverbfügungen – mit einem modal-finitisierenden und einem inhaltlich-infiniten Teil. Die Besonderheit ist dann, dass die direktionale Semantik durch verschiedene Präpositionen bzw. Konnektoren in diesem infiniten Teil indiziert wird, die räumliche Interpretierbarkeit für sich allein schon sichern.

 

3 Sich kurz fassen

 

Vermutlich muss dem aber noch hinzugefügt werden: wenn der Kontext und die Kommunikationssituation passen. Damit deutet sich an, dass man das Ganze auch von der anderen Seite her sehen kann, von der Frage ausgehend, wie viel sprachliche Unterfütterung eine Praxis jeweils braucht. Das beruht auf Erwartungen über das gegenseitige Beherrschen der Abläufe, die eine Praktik ausmachen, ein entsprechendes Sprachspiel prägen. In solch einem normativen Erwartungsrahmen bewegen sich die Kalkulationen zu einer ökonomischen Kommunikation und damit verbundenen Formen von Kürze. Im Vertrauen in eine gewisse Beherrschung der Praktiken ergibt sich im gesprochenen Alltag eine stärker auf Kürze hin orientierte Basisebene, von der aus im Ablauf nachgesteuert werden kann, was im Normalfall zu höherer Explizitheit führt. Sie liegt sicher im Normalfall nicht auf der Ebene höchstmöglicher Kondensierung; man muss zum Beispiel auch sehen, wie das Sprechen mit dem Handeln synchronisiert werden kann. Es kann dann nachgesteuert werden, wenn von der vermuteten Erwartung abzuweichen ist, oder wenn der Sachverhalt in irgendeiner Weise komplexer ist, als das für die jeweilige Praktik zu erwarten war. So gesehen geht es in dieser praktischen Welt nicht darum, dass etwas nicht gesagt und explizit gemacht würde, was strukturell zu erwarten wäre. Vielmehr haben sich in vielen Fällen selbständige Kurzkonstruktionen entwickelt, die mehr oder minder systematisch zur Steuerung an kritischen Stellen verwendet werden. Sie sind es, die in der Situation gebraucht werden, von ihnen aus lassen sich Stufen einer höheren Explizitheit bei Bedarf aufbauen.

Literarische Texte wie der oben angesprochene (Beispiel (8)) nutzen gerne Verlangsamung als eine Technik der Fokussierung von Aufmerksamkeit. Entsprechend haben gerade im Gesprochenen (bzw. bei oralen Strukturen) Implizitheit und Kürze mit der Geschwindigkeit und Strukturierung der Abläufe und der nötigen Konzentration auf jeweilige Praktik zu tun. So stellt es durchaus eine Herausforderung dar, ein Gespräch im Wechsel der Turns nicht zu aufwendig wiederzugeben. Verständlich, nicht zu umständlich, nachvollziehbar strukturiert und womöglich auch effektvoll soll die Wiedergabe sein. Dazu braucht es Techniken einer wirkungsvollen Kennzeichnung des Gesprächswechsels, um Gelenkakte in der Dialogwiedergabe. Wo so das Hin und Her eines Gesprächs an eine weitere Person vermittelt wird, finden sich Konstruktionen, die ihre Kürze unmittelbar einem gesprochenen Gebrauch verdanken. Einschlägig sind hier die eine Zeitlang intensiver untersuchten Quotativkonstruktionen mit so (im Anschluss an Golato 2000 [13] vielfach diskutiert, vgl. z.B. Lenzhofer 2018 [14]), wie sie sich in den folgenden Beispielen – verschriftlichter Mündlichkeit – finden. Man sieht jedenfalls, wie die Konstruktion und ich/er so als eine modal- deiktische Fügung in (9) verwendet wird, dann aber auch die ins Ungefähre führende Verwendung eines deiktischen so wie in (10) zeigt, wie sie für diese Partikel auch in anderen alltagssprachlichen Fügungen zu finden ist (vgl. Eichinger 2017, S. 313 f.) [2]. Man kann die beiden folgenden Belege von und ich/er so als Exempel für ein schriftnahes Quotativum und ein deiktisches Element in einen als diffus gekennzeichneten – multimodalen oder synästhetischen – Ausdrucksraum nehmen.  Schon beim Lesen zeigt sich zudem die Bedeutung der Intonation, der hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann (vgl. aber Hoffmann 2018, S. 18 f.) [9].

(9) Ich sagte: „He, du hast mein Velo“, und er so: „Nein, das kannst du nicht beweisen.“ (Tages-Anzeiger 02.02.2017, S. 25) [12]

(10) Nach ein bisschen Smalltalk läuft er wieder zu großer Form auf und erzählt: „Der Typ neulich: Ich so BÄMM und er so aaarghh.“ (MOPO 27.10.2011, S. 6) [12]

 

4 Verlässlichkeit signalisieren

 

Es wäre schrecklich unökonomisch, wenn im Alltag nicht ein stabiles Maß an Verlässlichkeit und an Vertrauen an Verlässlichkeit das Maß an Explizitheit bestimmte, mit dem wir sprachlich interagieren müssen (oder wollen). Ökonomie heißt aber nicht einfach: weniger. Es gibt einen Grad der Explizitheit, der jeweils zum Tun als adäquat gilt, der sich auch in Ritualisierungen niederschlagen kann. Entsprechende Strukturen ökonomischen Handelns sind in der literal geprägten Basis des Deutschen angelegt, das Alltagshandeln schafft auf dieser Basis aber auch seine eigene sprachliche Praxis der Situationsbewältigung (vgl. z.B. Hoffmann 2018, S. 19 ff.) [9].


References

[1] Ágel, Vilmos (2015): Die Umparametrisierung der Grammatik durch Literalisierung. Online- und Offlinesyntax in Gegenwart und Geschichte. In: Ludwig M. Eichinger (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 121–155.
[2] Eichinger, Ludwig M. (2017): Gesprochene Alltagssprache. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Tübingen: Stauffenburg, S. 283–331.
[3] Eichinger, Ludwig M. (2016): Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt. In: Arnulf Deppermann, Helmuth Feilke und Angelika Linke (Hg.): Sprachliche und kommunikative Praktiken. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. VI–XIII.
[4] Wittgenstein, Ludwig (1973): Philosophische Grammatik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[5] Zifonun, Gisela (2017): Eine Kur für die Ellipse. Zu nicht-kanonischen Äußerungsformen in der IDS-Grammatik. In: Yüksel Ekinci, Elke Montanari und Lirim Selmani (Hg.): Grammatik und Variation. Festschrift für Ludger Hoffmann zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Synchron, S. 37–53.
[6] Helmer, Henrike (2017): Analepsen mit Topik-Drop. Zur Notwendigkeit einer diskurssemantischen Perspektive. In: ZGL 45 (1), S. 1–39.
[7] Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger; Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin [u.a.]: de Gruyter.
[8] Ransmayr, Christoph (2006): Ein fliegender Berg. Frankfurt a. M.: Fischer.
[9] Hoffmann, Ludger (2018): Grammatik und gesprochene Sprache im Diskurs. In: Arnulf Deppermann und Silke Reinecke (Hg.): Sprache im kommunikativen, interaktiven und kulturellen Kontext. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 5–28.
[10] Eichinger, Ludwig M. (2004): Ein Geburtstag fast ohne Verben. Ein Tagebucheintrag zum 60. Geburtstag. In: Daniel Czicza, Ildikó Hegedűs, Péter Kappel und Attila Németh (Hg.): Wertigkeiten, Geschichten und Kontraste. Festschrift für Péter Bassola zum 60. Geburtstag. Szeged: Grimm, S. 451–464.
[11] Fortmann, Christian; Wöllstein, Angelika (2013): Zum sogenannten Absentiv. In: Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 4 (1), S. 77–93.
[12] Deutsches Referenzkorpus (DEREKO) (http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/). [alle Zeitungsbelege].
[13] Golato, Andrea (2000): An innovative quotation for reporting embodied actions: ‘Und ich so/und er so’ ‘and I’m like/and he’s like‘. In: Journal of Pragmatics 32, S. 29–54.
[14] Lenzhofer, Melanie (2018): „Und er so: Geh ma Kino!“ – Phänomene syntaktischer Kompaktheit in ruraler und urbaner Jugendkommunikation Österreichs. In: Arne Ziegler (Hg.): Jugendsprachen. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 489–518.