Cover: Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Bayrak, Cana; Frank, Annika; Heintges, Jessica; Sotkov, Mihail


Didaktische Pfade

Torsten Steinhoff 1


1 Siegen

Ludger Hoffmanns zentrales Konzept für den Grammatikunterricht ist der „didaktische Pfad“. Darunter versteht er „einen in der Sache begründeten und im Schwierigkeitsgrad sich allmählich steigernden Zugang zu einem sprachlichen Funktionskomplex“ (Hoffmann 2009, S. 938) [1]. Der didaktische Pfad folgt der Logik der funktionalen Grammatik und Annahmen über den Spracherwerb der Lernenden. Er führt sie durch diesen Komplex wie ein Lehrpfad durch einen weitläufigen Park, einen dichten Wald oder ein zerklüftetes Gebirge.

Das „Grundprinzip“ eines didaktischen Pfads ist, „funktional eigenständige Einheiten in ihrem Gebrauch spielerisch nachvollziehbar zu machen, sie dann erst in ihre Bestandteile zu zerlegen und deren Formen zu erkunden“ (ebd.) [1]. Für die erste Begegnung mit der Grammatik im Grundschulunterricht etwa schlägt Hoffmann (2016, S. 21 f.) [2] einen Pfad durch den Komplex „Redegegenstände formulieren“ vor, auf dem die Lernenden sich mit der Deixis der 1. und 2. Person, Eigennamen, der einfachen Nominalgruppe und Nomen samt bestimmten Artikeln befassen.

Die didaktischen Pfade erlauben ein Fortschreiten von einem „medialen“ über ein „kognitives“ zu einem „reflexiven“ Lernen. Das mediale Lernen vollzieht sich „über aktive Teilnahme an Kommunikation, über Resonanzen, geteiltes Verständnis einer Situation und kooperatives Erreichen von Zwecken“ (Hoffmann 2011, S. 192) [3]. Das kognitive Lernen ist „das schultypische, vom Gegenstand distanzierte, ihn objektivierende Lernen, das ein ‚Know-that‘ zur Folge hat“ (Hoffmann 2009, S. 926) [1]. Und das reflexive Lernen kennzeichnet, dass sich die Lernenden „ihrer Lernprozesse bewusst“ werden und „über ihr Lernen und seine Bedingungen“ sowie „das Verhältnis zum Medium Sprache“ nachdenken (Hoffmann 2014, S. 79) [4]. Diese Lernvorgänge lösen einander nicht ab, sondern ergänzen sich.

Das Pfadkonzept bestimmt Aufbau und Inhalt von Hoffmanns (2016) [2] Grammatik-Curriculum. Nach dem bereits erwähnten Komplex „Redegegenstände formulieren“ werden dort fünf weitere Komplexe beschrieben und erklärt: „Gedanken formulieren“ – „Ausbau von Gedanken“ – „Gedanken verknüpfen und erweitern“ – „Abfolge und Kommunikative Gewichtung“ sowie „Zweckbereiche des Handelns und Äußerungsmodi“. Die Grammatik soll die Lehrenden dazu befähigen, didaktische Pfade anzulegen, die sich für ihren Unterricht eignen (vgl. ebd., S. 22 f.) [2].

Hoffmanns Position, dass sich der Grammatikunterricht am sprachlichen Handeln orientieren muss, ähnelt der Position, die im Paradigma der Kompetenzorientierung eingenommen wird: Die SchülerInnen sollen lernen, die Funktionen von Sprache in Gesprächen und Texten zu verstehen und zu nutzen. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt Hoffmann allerdings einen Weg ein, der sich deutlich von anderen grammatikdidaktischen bzw. sprachreflexiven Ansätzen abhebt – insbesondere durch die Bedeutung, die er dem grammatischen Wissen und der grammatischen Terminologie beimisst.

Im grammatischen Wissen sieht Hoffmann (2013a, S. 135) [5] ein Kulturgut ersten Ranges: „Ein Verständnis der Grammatik als System sprachlichen Handelns ist ebenso legitim wie ein Verständnis des Blutkreislaufes für die Biologie oder des Zahlensystems für die Mathematik.“ Außerdem nimmt er an, dass sich das grammatische Wissen positiv auf das sprachliche Können auswirkt: „Wenn wir wissen, was wir tun, können wir es auch verbessern: genauer formulieren, den Hörer im Blick halten, die richtigen Worte wählen, das Verstehen optimieren“ (Hoffmann 2016, S. 16) [2].

Die Terminologie, die Hoffmann verwendet, soll Lehrende und Lernende darin unterstützen, das in der Kommunikation Beobachtete zu ordnen und zu erschließen. Was die Lernenden „an den Phänomenen sehen, lässt sich in eine erste Systematik fassen, die dann auch sinnvolle Kategorien beinhaltet“ (Hoffmann 2013b, S. 131) [6]. Die Terminologie schließt an die Schulgrammatik an (z.B. „Pronomina“), ist letztlich aber funktionalgrammatisch geprägt (z.B. „Anapher“, „Objektdeixis“, „Relativum“). Damit erleichtert sie es den Lehrenden und Lernenden, grammatische Phänomene in den Blick zu nehmen, die in den meisten anderen Grammatikdidaktiken im Dunkeln bleiben (z.B. Prozedur, Partikeln, Adjunktorgruppe).

Ich setze Ludger Hoffmanns Grammatik in der universitären Lehre ein, um einen pragmatischen Zugang zu didaktisch relevanten sprachlichen Phänomenen zu bahnen, z.B. bei der Analyse von Schülertexten oder Unterrichtstranskripten. Mich beeindruckt, wie Hoffmann sein Konzept theoretisch und terminologisch entwickelt, seine Ausführungen durch Beispiele aus dem alltäglichen und poetischen Sprachhandeln illustriert und das Forschungsfeld seit Jahrzehnten großflächig und geduldig kultiviert.

Um die funktionale Grammatik weiter zu erforschen und die Sprachdidaktik samt ihren Bezugsdisziplinen funktionalgrammatisch fortzubilden – und umgekehrt –, sollte der Austausch zwischen den verschiedenen Bereichen intensiviert werden. So könnte beispielsweise in den Blick genommen werden,

  • wie sich das mediale, kognitive und reflexive Lernen zu einschlägigen Erwerbsmodellen verhält, etwa zu Gesprächs-, Lese- oder Schreibfähigkeiten (vgl. Gailberger/Wietzke 2013) [7],
  • wie sich das funktionalgrammatische Wissen zu Wissensarten verhält, die in der Sprachdidaktik diskutiert werden („Prozesswissen“, „Analysewissen“, „Wissen in Funktion“ etc.) (vgl. Gornik 2014) [8],
  • wie funktionalgrammatische Lern- und Wissenskonzepte empirisch operationalisiert werden können (z.B. Aufgaben, Tests oder Ratings) (vgl. Becker-Mrotzek/Grabowski/Steinhoff 2017) [9],
  • ob und inwiefern funktionalgrammatisches Wissen einen (empirisch nachweisbaren) positiven Einfluss auf grammatisches Können hat (vgl. Feilke/Tophinke 2016) [10],
  • ob und inwiefern es Zusammenhänge zwischen funktionalgrammatischem Wissen und fachlichem Lernen gibt (vgl. Roll/Bernhardt/Enzenbach/Fischer/Gürsoy/Krabbe/Lang/Manzel/ Uluçam-Wegmann 2019) [11] oder
  • wie sich didaktische Pfade im Unterricht im Vergleich zu anderen grammatikdidaktischen Konzepten auf sprachliches Wissen und Können auswirken (vgl. Binanzer/Langlotz 2018) [12].

In einigen Projekten der jüngeren Zeit, an denen ich betreuend oder forschend beteiligt war, standen ebenfalls – in einem weiten Sinne – didaktische Pfade im Mittelpunkt. Dabei ging es nicht um die Logik der Grammatik und den Erwerb grammatischen Wissens, sondern um die Typik des Sprachgebrauchs und die Entwicklung sprachlichen Könnens. Es ging um Funktionskomplexe, die im funktionalen Grammatikunterricht aufgrund ihrer Komplexität erst am Ende des Lehr-/Lernprozesses stehen: Handlungsmuster. Und es ging darum, diese Muster über für sie typische Formulierungen für die Lernenden nutzbar zu machen.

Untersucht wurde, wie sich in „Lernarrangements“ (kurz: „Arrangements“) zu den Handlungsmustern Argumentieren, Beschreiben und Erklären die Bereitstellung von „Textprozeduren“ auf den Sprachgebrauch der Lernenden auswirkten. Die Lernenden erhielten Hilfen zu „Textprozedurenschemata“ (kurz „Schemata“, z.B. „Vergleiche X mit Dingen und Personen.“), Hilfen zu „Textprozedurenausdrücken“ (kurz „Ausdrücke“, z.B. „... sieht aus wie ...“) oder Hilfen, die beides miteinander verbanden. Um die Effekte dieser Hilfen zu untersuchen, wurden in einer Reihe von Schulen quasi-experimentelle Studien durchgeführt.

In einer ersten Studie wurde das schriftliche Argumentieren und Beschreiben im Deutschunterricht der 4. Klasse untersucht (vgl. Anskeit 2019) [13]. Die SchülerInnen sollten zu der Frage argumentieren, ob sie einen Ausflug in einen Park oder einen Zoo unternehmen wollen, und ein Playmobil-Zimmer so beschreiben, dass man es nachbauen kann. Es zeigte sich, dass Arrangements mit Schema-Ausdrucks-Hilfen zu besseren Texten führten als Arrangements mit Schema-Hilfen und Arrangements ohne Hilfen.

In einer zweiten Studie wurde das schriftliche Beschreiben von SuperheldInnen und -schurkInnen im Deutsch- und Türkischunterricht der 6. Klasse untersucht (vgl. Rüßmann/Steinhoff/Marx/Wenk 2016) [14]. Es zeigte sich, dass Arrangements mit Schema-Ausdrucks-Hilfen und Schema-Hilfen zu besseren Texten führten als Arrangements mit Ausdruckshilfen und Arrangements ohne Hilfen. Des Weiteren zeigten sich interlinguale Lerneffekte: SchülerInnen mit deutscher und türkischer Familiensprache, die in ihren deutschen Texten Schema-Hilfen in Anspruch nahmen, nutzten sie auch in ihren türkischen Texten (vgl. Wenk/Marx/Rüßmann/Steinhoff 2016) [15]. Es fand also eine interlinguale Transformation statt.

In einer dritten Studie wurde das mündliche Erklären im Biologie- und Geschichtsunterricht der 8. Klasse untersucht (vgl. Steinhoff/Borgmeier/Brosowski/Marx 2020) [16]. Es zeigte sich, dass „bildungslexikalisch profilierte“ Arrangements mit Schema-Ausdrucks-Hilfen (z.B. Definieren & „... versteht man ...“), die im Rahmen von Lese- und Schreibaufgaben erarbeitet worden waren, zu besseren mündlichen Vorträgen führten als „fachlexikalisch profilierte“ Aufgaben mit Definitionen von Fachtermini (z.B. „Gewaltenteilung“ oder „Makrophage“). Das war sogar fächerübergreifend der Fall: Obwohl sich die SchülerInnen stets nur im Biologie- oder Geschichtsunterricht mit den Hilfen auseinandersetzten, waren sie in der Lage, sie auch im jeweils anderen Fach zu verwenden.

Die Ergebnisse der drei Projekte verdeutlichen, dass didaktische Pfade, die SchülerInnen helfen, typische Formulierungen mit Bezug zum sprachlichen Handeln zu erkunden und zu erproben, wirksam sind, und zwar sowohl in der Schriftlichkeit als auch in der Mündlichkeit und außerdem über Einzelsprachen und Schulfächer hinweg.

Dies wirft diverse Anschlussfragen auf, auch für die Funktionalgrammatik, etwa: Welche Effekte haben Hilfen zu anderen Komplexen wie etwa „Handlungen“, „Akten“ und „Prozeduren“ auf den Erwerb sprachlichen Könnens? Wie lassen sich solche Erwerbsprozesse mit der Vermittlung grammatischen Wissens vereinbaren? Und welche Rolle spielen dabei Faktoren des „medialen“, „kognitiven“ und „reflexiven“ Lernens?


References

[1] Hoffmann, Ludger (2009): Didaktik der Wortarten. In: ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 925–950.
[2] Hoffmann, Ludger (2016): Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: ESV.
[3] Hoffmann, Ludger (2011): Kommunikative Welten – das Potential menschlicher Sprache. In: Ludger Hoffmann, Kerstin Leimbrink und Uta M. Quasthoff (Hg.): Die Matrix der menschlichen Entwicklung. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 165–210.
[4] Hoffmann, Ludger (2014): Linguistische Theoriebildung, Schulgrammatik und Terminologie. In: Hildegard Gornik (Hg.): Sprachreflexion und Grammatikunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 59–89.
[5] Hoffmann, Ludger (2013a): Grammatikunterricht. In: Björn Rothstein und Claudia Müller (Hg.): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Unter Mitarbeit von Sandra Hiller und Melanie Banken. Ein Handbuch, S. 132–146.
[6] Hoffmann, Ludger (2013b): Grammatikmethodik. In: Björn Rothstein und Claudia Müller (Hg.): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Unter Mitarbeit von Sandra Hiller und Melanie Banken. Ein Handbuch, S. 122–132.
[7] Gailberger, Steffen; Wietzke, Frauke (Hg.) (2013): Handbuch Kompetenzorientierter Deutschunterricht. Weinheim [u.a.]: Beltz.
[8] Gornik, Hildegard (2014): Sprachreflexion, Sprachbewusstheit, Sprachwissen, Sprachgefühl und die Kompetenz der Sprachthematisierung – ein Einblick in ein Begriffsfeld. In: Hildegard Gornik (Hg.): Sprachreflexion und Grammatikunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 41–58.
[9] Becker-Mrotzek, Michael; Grabowski, Joachim; Steinhoff, Torsten (Hg.) (2017): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster [u.a.]: Waxmann.
[10] Feilke, Helmuth; Tophinke, Doris (2016): Grammatisches Lernen. In: Praxis Deutsch 256, S. 4–11.
[11] Roll, Heike; Bernhardt, Markus; Enzenbach, Christine; Fischer, Hans E.; Gürsoy, Erkan; Krabbe, Heiko; Lang, Martin; Manzel, Sabine; Uluçam-Wegmann, Işıl (Hg.) (2019): Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch. Münster [u.a.]: Waxmann.
[12] Binanzer, Anja; Langlotz, Miriam (2018): Grammatik. Empirische Forschung zu grammatischem Können und Wissen. In: Jan M. Boelmann (Hg.): Empirische Forschung in der Deutschdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 303–319.
[13] Anskeit, Nadine (2019): Schreibarrangements in der Primarstufe. Eine empirische Untersuchung zum Einfluss der Schreibaufgabe und des Schreibmediums auf argumentative und deskriptive Texte und Schreibprozesse in der 4. Klasse. Münster [u.a.]: Waxmann.
[14] Rüßmann, Lars; Steinhoff, Torsten; Marx, Nicole; Wenk, Anne Kathrin: Schreibförderung durch Sprachförderung? Zur Wirksamkeit sprachlich profilierter Schreibarrangements in der mehrsprachigen Sekundarstufe I unterschiedlicher Schulformen. In: Didaktik Deutsch 40, S. 41–59.
[15] Wenk, Anne Kathrin; Marx, Nicole; Rüßmann, Lars; Steinhoff, Torsten (2016): Förderung bilingualer Schreibfähigkeiten am Beispiel Deutsch-Türkisch. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27 (2), S. 151–179.
[16] Steinhoff, Torsten; Borgmeier, Hendrik; Brosowski, Tim; Marx, Nicole (2020): Förderung des mündlichen bildungssprachlichen Handelns in den Sachfächern der Sekundarstufe I. In: Cora Titz, Susanne Weber, Hanna Wagner, Anna Ropeter, Sabrina Geyer und Marcus Hasselhorn (Hg.): Sprach- und Schriftsprachförderung wirksam gestalten: Innovative Konzepte und Forschungsimpulse. Stuttgart: Kohlhammer, S. 135–155.