Die komplexe Nominalphrase: Grammatik und mentale Prozesse
1 Münster
1 Einleitendes
Im Deutschen tendiert die Nominalphrase zu einer Komplexität, die andere Phrasen nicht erreichen. Sie kann im Vor- und Nachfeld – gemeint ist die Topologie der Nominalphrase – expandiert werden. Das Vorfeld ist ein Flexionsraum, in dem flektierbare Ausdrücke, vornehmlich Adjektive, erscheinen. Das Vorfeld wird oft mit dem Determinativ eröffnet. Ist das Nachfeld nicht besetzt, bildet der nominale Kopf, der immer das Zentrum der Phrase darstellt, die rechte Phrasengrenze. Im Nachfeld erscheinen syntaktisch schwere Modifikatoren: Präpositionalphrasen, Relativsätze, aber auch Adverbphrasen und Nominalphrasen. Diese Ausdrücke kennzeichnen das Nachfeld als einen Raum der Formkonstanz. Funktional und kommunikativ-pragmatisch überschneiden sich Vorfeld und Nachfeld darin, dass sie Räume der Restriktion sind, deren syntaktischer Reflex das Attribut ist, das eine Nominalphrase voraussetzt, an die es angedockt ist. Alle Elemente sind auf den Kopf der Phrase hingeordnet. Der Kopf ist nicht nur syntaktisches Zentrum, sondern steuert auch die mentale Verarbeitung des aufgebauten Gegenstandsbereichs.
2 Restriktion als syntaktische Prozedur
Hoffmann (2003) [1] arbeitet in seiner "Funktionalen Syntax" unterschiedliche syntaktische Basisprozeduren in Anlehnung an Ehlich (2007 u.a.) [2] heraus. Als Basisprozedur ist zunächst die „Integration“ (Hoffmann 2003, S. 27 ff.) [1] zu nennen, die in mehrere Subtypen zerfällt.
Sprachmittel verbinden sich zu einer Funktionseinheit, in der die Funktion des einen auf die Funktion des anderen Mittels hingeordnet ist und diese Funktion unterstützt, ausbaut oder ausdifferenziert. In der Integration erscheint eine Funktion auf mehrere Träger verteilt. Sie lässt einen bzw. den ursprünglichen Träger prägend bleiben. Die Funktion des Ganzen ergibt sich aus der dominant gesetzten Funktion eines Teils, der Basis der Konstruktion. In Phrasen ist es der Kopf, der die Funktion der ganzen Einheit prägt und die Basis bildet. (Ebd., S. 27) [1]
Die Integration ist demnach eine Prozedur, die der Bildung von Phrasen als Funktionseinheiten dient. Phrasen haben einen Kopf. Mit dem Kopf allein ist oft der kommunikative Zweck der Funktionseinheit nicht zu erreichen: „So kann die Hintereinander- oder Parallelschaltung integrativer Prozeduren erforderlich sein“ (ebd.) [1]. Für den Nominalphrasenaufbau ist die integrative Prozedur der „Determination“, die kommunikative Inanspruchnahme geteilten Wissens (vgl. Ehlich 2003) [3], konstitutiv (vgl. Hoffmann 2003, S. 56 ff.) [1]. Der nominale Kopf kann oft nicht alleine stehen. So verbinden sich Gattungsnamen mit einem Artikelwort: Der Tisch ist rund, *Tisch ist rund. Der Ausbau der Nominalphrase wird mittels der Prozedur der „Restriktion“ (ebd., S. 47 ff.) [1] realisiert. Mit restriktiven Prozeduren wird der Gegenstandsbereich so eingeschränkt, dass seine Auffindung dem Hörer erleichtert wird.
Die nominale Restriktion beschränkt den Gegenstandsbereich. Sie unterstützt die Konstitution des Gegenstands, die oft nur mehrzügig möglich ist. Reicht aufgrund der Zugänglichkeit des Gegenstands ein Ausdruck (Anapher, Persondeixis, Eigenname), wird kein restriktiver Ausdruck verwendet. Insbesondere Nominalphrasen erhalten restriktive Erweiterungen. (Ebd., 47) [1]
Als restriktive Sprachmittel kommen differente Ausdrucksmittel in Frage. In artikellosen Nominalphrasen verbinden sich oft Ausdrücke mit gleicher prozeduraler Qualität (nette Männer). Kommt das Determinativ ins Spiel, entsteht ein operativ-symbolischer Prozedurenkomplex (die netten Männer). Da Nominalphrasen, einfache und komplexe, einen Redegegenstand entwerfen, sind sie konstitutiv für die Bildung von Sätzen. In Sätzen wird ein vollständiger Gedanke ausgedrückt, der in „seiner Abgeschlossenheit […] eine minimale Totalität“ (ebd., S. 79) [1] repräsentiert. In Subjektfunktion verbinden sich Nominalphrasen mit der Prädikation – alles, was über den Gegenstand gesagt wird –, zu einer höheren Funktionseinheit. Das Verfahren der Satzbildung nennt Hoffmann (2003, S. 79 ff.) [1] „Synthese“, die stets im Satz einmündet. In seiner maximalen syntaktischen Ausdehnung verbindet sich das Verb mit weiteren Komplementen.
3 Nominalphrase: Ausbau im Vorfeld
Die Nominalphrase kann mit Determinativen eröffnet werden. Determinative sind Ausdrücke, die einen spezifischen Wissensstatus markieren (vgl. Hoffmann 2007b) [4]. Sie haben als ihren primären Zweckbereich die Determination, die kommunikative Inanspruchnahme geteilten Wissens. Unmittelbar an der Determination wirkt der definite Artikel.
Die Determination ist wissensbezogen und operiert auf dem Hörerwissen. Sie unterstützt die Verarbeitung des versprachlichten Wissens, indem sie das Gemeinte in einem Wissensrahmen lokalisiert. Für die Verarbeitung müssen Wissensressourcen (Vorwissen, Laufwissen, Welt-wissen, Sprachwissen etc.) genutzt werden, um das Gemeinte aufzufinden. (Hoffmann 2016, S. 108) [5]
Die Flexion der Determinative ist kopfgesteuert. Das Substantiv als Kopf der Nominalgruppe überträgt seine flexivischen Merkmale auf das Determinativ. Determinativ und Kopf bilden eine nominale Klammer – Klammerstrukturen sind für das Deutsche spezifisch: Satzklammer, Nebensatzklammer. Die Voranstellung des Determinativs in der Nominalgruppe erzeugt einen Flexionsraum im Vorfeld. Zwischen Determinativ und Kopfnomen sind Ausdrücke zu positionieren, die der Flexion zugänglich sind. Das Determinativ spielt formal-grammatisch, morphologisch eine entscheidende Rolle: Es markiert den Kasus des Kopfes, der – außer in Subjektposition – verbgesteuert ist. Das Determinativ – die einzelnen Wortformen lassen sich gut voneinander unterscheiden – kompensiert, disambiguiert zu erheblichen Teilen den nominalen Formensynkretismus. Man denke hier nur an Feminina, die im Singular alle endungslos sind und damit keine Kasusflexive aufweisen. Prominent besetzen den Zwischenbereich Adjektive. Determinative, Adjektive und Substantive gehören flexionsmorphologisch zum nominalen Bereich. Sie flektieren mit denselben klassenbildenden Kategorien: Genus, Kasus und Numerus. Aus diesem Grund ist das Vorfeld ein Flexionsraum: Die Einheiten sind von gleicher morphologischer Qualität.
Die Paradeposition deutscher Adjektive ist der Bereich zwischen Artikel und Kopfnomen (vgl. Selmani 2020; Hoffmann 2016, S. 159 ff.)[6] [5]. So ist die syntaktische Basisfunktion des Adjektivs das Attribut – das Attribut ist die syntaktische Reflexion der Restriktion. Daher sind als Adjektive nur solche Ausdrücke zu klassifizieren, die sich prinzipiell mit Substantiven kombinieren lassen (vgl. Hoffmann 2016, S. 164) [5]. Adjektive kommen in Nominalphrasen so häufig vor, dass man die Struktur DET + ADJ + NOM als Standardfall der komplexen Nominalphrase sehen könnte. Die Elementarität der adjektivischen Restriktion und Charakterisierung lässt sich auch anhand des Erwerbs zeigen. Als ausgebaute Nominalphrasen setzen Kinder ab der zweiten Klasse vor allem solche ein, die mit restriktiven Adjektiven erweitert sind. Erst ab der vierten Klasse ist eine Nachfeldbesetzung zu beobachten (vgl. Augst/Disselhoff/Henrich/Pohl/Völzing 2007) [7]. Die Adjektivflexion ist artikelgesteuert. Das Kopfnomen überträgt seine Flexionsmerkmale auf das Artikelwort, das dann flexematisch auf das Adjektiv einwirkt. Die Zusammengehörigkeit von Artikel, Adjektiv und Kopfnomen wird nicht nur mittels der Nominalklammer gekennzeichnet, sondern auch durch morphologische Kongruenz. Das Adjektiv als wichtigstes Charakterisierungselement erscheint in der Nähe des zu Charakterisierenden. Hier wirkt also ein von Behaghel (1909) [8] beobachtetes Prinzip: Was zusammengehört, wird zusammengestellt. Dieses Anordnungsprinzip kommt der hörerseitigen Verarbeitung entgegen, wie noch gezeigt wird. Dem Ausbau mit Adjektiven sind kaum Grenzen gesetzt. So können, vornehmlich in der Schriftlichkeit, mehrere Adjektive das Vorfeld besetzen: der schwarze süße türkische Tee. Man sieht an den Adjektivendungen, dass alle Adjektive flektiert sind. Das letzte, das kopfnahe Adjektiv bezieht sich direkt auf das Nomen, das zweite bezieht sich auf die Verbindung des letzten Adjektivs mit dem Nomen, das erste bezieht sich auf die Verbindung dieser Verbindung. Die Flexion ist ein Indiz dafür, dass hier drei Adjektivphrasen vorliegen, die in ihrer phrasenbildenden Funktion am Aufbau der Nominalphrase beteiligt sind. Das letzte Adjektiv ist die Erweiterung des Nomens, das zweite die Erweiterung dieser Erweiterung und das erste wiederum die Erweiterung dieser Erweiterung.
Aufgrund der schweren Verarbeitbarkeit können Teile ins Nachfeld ausgelagert werden. Dann werden die Adjektive zu Präpositionalphrasen umgewandelt: der schwarze süße Tee aus der Türkei. Solche Entlastungsstrategien erleichtern das hörerseitige Verstehen.
Flektierten Adjektiven kann ein unflektiertes Adjektiv vorangehen, das dann nicht adnominal ist, sondern adadjektivisch. Mit dem unflektierten Adjektiv wird nicht das Nomen charakterisiert, vielmehr das adnominale Adjektiv modifiziert. Diese beiden Adjektive verbinden sich, anders als im obigen Beispiel, zu einer komplexen Adjektivphrase, die mit ihrer kompletten Struktur auf das Kopfnomen zu beziehen ist.
Im Vorfeld kann das Kopfnomen durch eine einschränkende Nominalphrase erweitert werden. Diese Nominalphrase erscheint im Genitiv (vgl. Hoffmann 2016, S. 173 ff.) [5] und ist artikellos (*das Omas Fahrrad). Kommt der Artikel zum Einsatz, wechselt das Genitivattribut das Feld, es wandert ins Nachfeld (das Fahrrad Omas). Die Artikellosigkeit bei vorangestellten Genitiven ist damit zu erklären, dass das Determinativ die Genitivnominalphrase nicht überbrücken kann. Diese blockiert den Bezug zum Bezugsnomen. In der Mündlichkeit kann der possessive Dativ Abhilfe leisten (der Oma ihr Fahrrad, Oma ihr Fahrrad). An dieser Stelle lässt sich als Muster festhalten: Folgt oder geht eine Nominalphrase einer anderen voran, ist diese Kategoriengleichheit so zu verstehen, dass eine Nominalphrase Attribut der anderen ist (das Erweiterungsnomen ausgenommen). Das Genitivattribut ist im Gegenwartsdeutschen relativ produktiv, auch wenn die von-Phrase als analytischer Genitiv eine Konkurrenzform darstellen mag (das Fahrrad von Oma). In der von-Phrase ist von in possessiver Lesart keine Präposition. Man könnte dann bei von von der Grammatikalisierung eines analytischen Genitivmorphems sprechen. Ist das Fahrrad ein Geschenk der Oma, ist von eine Präposition. Der Genitivkasus ist keine Relikterscheinung. Er ist als Objektkasus zwar nicht mehr so produktiv wie im Mittelhochdeutschen, als Attributkasus ist er aber stabil. Der Genitiv ist, anders als Akkusativ und Dativ, deutlich markiert. Das Genitivmorphem -s kommt bei Maskulina und Neutra zum Einsatz. Der Genitiv kann differente Beziehungen zum Kopfnomen ausdrücken. Im Vorfeld ist der Genitiv vor allem ein genitivus auctoris (Goethes Gedichte) oder ein genitivus possessivus (Goethes Dokumente).
Im Vorfeld können auch restriktive Partizipialattribute erscheinen, die zu einer besonderen Komplexität des Vorfeldes führen. Als solche sind nicht etwa Partizipien zu verstehen (der gestiefelte Kater), sondern vor allem solche, die sich mit weiteren Modifikatoren verbinden: der dort wohnende Professor; die in Münster lebenden Professorinnen. Als Modifikatoren der Partizipien kommen verschiedene semantische Klassen von Adverb- und Präpositionalphrasen vor. Dies ist kein Zufall, erscheinen diese doch auch im Nachfeld. Es gibt also ein ganz bestimmtes Repertoire von Einheiten, die als Partizipanten der Nominalphrase in Frage kommen. Das Vor- und Nachfeld sind keine Räume für beliebige Einheiten. Es liegt in der Argumentstruktur der Partizipien, welche Modifikatoren zu wählen sind. So fordert wohnen eine Lokalergänzung als Komplement (dort), leben verbindet sich mit dem Lokalsupplement in Münster.
Kombinationen dieser Restriktionseinheiten sind im Vorfeld bei Adjektiven und Partizipialattributen möglich: das schöne, sich in Münster befindende Haus. Das Genitivattribut im Vorfeld muss nicht unmittelbar vor dem Kopf positioniert werden. Zwischen Genitivnominalphrase und Kopfnomen kann ein Adjektiv stehen: Hannas nette Kollegin. Voranstellung des Adjektivs ist ungrammatisch: *nette Hannas Kollegin. Die Abfolge in der Nominalgruppe ist also relativ fest (vgl. Hoffmann 2018, S. 41) [9].
Das Vorfeld, genauer, der Bereich zwischen Determinativ und Bezugsnomen, ist ein Attribuierungsraum, der offen für Flexion ist. Attribute erscheinen in der Regel kopfnah, in der Nähe des Kopfnomens – die semantische Nähe schlägt sich nieder in einer topologischen. Attribute setzen einen Anker voraus, weil sie eine Satzfunktion zweiter Art sind. Ankerpunkt der Attribute ist das Kopfnomen, um das sich restriktiv die Attribute gruppieren. Die Attribute bereiten den Weg zum Gegenstandsbereich vor. Sie restringieren im Vorfeld den Referenzbereich zwecks besserer Identifizierbarkeit des Gegenstandes. Als Sprachmittel der Restriktion im Vorfeld stellt das Deutsche zur Verfügung: Adjektive, Nominalphrasen im Genitiv, Partizipialattribute.
4 Nominalphrase: Ausbau im Nachfeld
Das Nachfeld der Nominalphrase ist ein Restriktionsraum, aber kein Flexionsraum, sondern ein Raum der Formkonstanz. Hier erscheinen nicht flektierbare Einheiten. Auch hier können mehrere Ausdrücke stehen. Da das Nachfeld für Flexion nicht offen ist, können dort Adverbphrasen platziert werden, weiterhin Präpositionalphrasen und Relativsätze – syntaktisch schwere Elemente, die zu einer Komplexität des Nachfeldes führen können. Die einzige Einheit, die Flexionsmerkmale aufweist, ist die Nominalphrase im Genitiv.
Die Besetzung des Nachfeldes durch Adverbphrasen (vgl. Hoffmann 2007a) [10] unterliegt Restriktionen. So können modifikative Adverbien wie gerne dort nicht erscheinen. So wie die lexikalische Füllung des Kopfnomens das Adjektiv selegiert, so selegiert sie Adverbien. Vor allem temporal und lokal situierende deiktische Adverbien verbinden sich restriktiv mit dem Kopfnomen: die Sitzung heute, das Haus dort (vgl. Hoffmann 2016, S. 179) [5]. Diese Restriktion macht deutlich, dass das Attribut keine Basisfunktion des Adverbs ist. Adverbphrasen können durch weitere Adverbphrasen erweitert werden, so dass dann eine komplexe Adverbphrase vorliegt: das Haus dort drüben.
Präpositionalphrasen als Attribute im Nachfeld sind produktiver als Adverbphrasen, weil hier weitaus weniger Restriktionen zu erwarten sind (vgl. Selmani 2019, S. 125 ff.) [11]. Da Präpositionalphrasen schwere Phrasen sind, kann die Nominalphrase eine besonders komplexe Form annehmen (die flotten Kinder mit den roten Mützen). Oft finden sich dort Mehrfachbesetzungen: die Kinder aus Lönneberga mit den vielen Spielzeugen aus Deutschland. Solche Kumulationen sind vor allem spezifisch für das schriftsprachliche Register. Die hohe Vorkommensfrequenz von Präpositionalphrasen im Nachfeld der Nominalphrase hängt auch damit zusammen, dass Substantive eine spezifische Präpositionalphrase als Komplement regieren können. Zumeist handelt es sich um Deverbativa, die die Valenz der Basen weitervererben: Hoffnung auf bessere Zeiten, die Suche nach der verlorenen Zeit. Es sind aber nicht ausschließlich Rektionssubstantive, die als Bezugsausdrücke in Frage kommen: Giftanschlag auf russischen Oppositionspolitiker.
Relativsätze als Nebensätze sind Attributsätze (vgl. Hoffmann 2016, S. 180 ff.) [5]. Auch hier sind dem Einsatz im Nachfeld kaum semantisch-pragmatische Grenzen gesetzt. Prinzipiell kann jede Nominalphrase mit einem Relativsatz erweitert werden. Die meisten Relativsätze sind restriktiv. Appositive Relativsätze verbinden sich vor allem mit Eigennamen. Mehrfachbesetzung durch Relativsätze ist nicht möglich. Der Umfang eines Relativsatzes führt zu einer Komplexität der ganzen Phrase. Das den Relativsatz einleitende Relativum muss nicht kasusidentisch sein mit dem Bezugsnomen: meiner Mutter, die heute sechzig wird.
Das restriktive Genitivattribut erscheint oft dann in Nachfeld, wenn dem Bezugsnomen ein Determinativ vorangeht: die Gedichte Goethes. Im Nachfeld kann der Genitiv unterschiedliche Beziehungen zum Kopfnomen ausdrücken: genitivus subiektivus/obiektivus (die Hinrichtung des Henkers), genitivus partitivus (die Hälfte eines Lebens), genitivus possessivus (die Stifte meiner Schüler).
So wie im Vorfeld auch sind im Nachfeld Kombinationen von diesen Einheiten möglich, wobei spezifische Abfolgemuster zu beachten sind (vgl. ebd., S. 479 ff.) [5]. Dabei erscheint das Genitivattribut in unmittelbarer Nähe des Kopfnomens: die Gedichte Goethes dort; *die Gedichte dort Goethes; die Gedichte Goethes, die ich schon immer lesen wollte; *die Gedichte, die ich schon immer lesen wollte, Goethes. Eine Erweiterung nach dem Relativsatz ist kaum denkbar: das Haus dort, das ich kaufen wollte; ??das Haus, das ich kaufen wollte, dort. Problemlos kombinierbar sind Adverb- und Präpositionalgruppen: die Fliege dort drüben an der Decke; die Fliege an der Decke dort drüben.
5 Nominalphrase: Grammatik und mentale Prozesse
Im Vorfeld und Nachfeld ausgebaute Nominalphrasen – in dieser Komplexität sind sie in Diskursen weniger zu erwarten – verlangen dem Hörer viel ab. Nicht selten kommt es zu Verzögerungen beim Verstehen, zu einer „Attribuierungskomplikation“ (Schmidt 1993) [12]. Der Zweck solcher Erweiterungen besteht darin, „das mögliche Gemeinte soweit auf ein Singuläres […] einzuschränken, dass das faktische Gemeinte sich deutlich […] nachvollziehbar herauskristallisiert“ (Hoffmann 2003, S. 47) [1]. Die zeitliche Abfolge der Teile in der Nominalphrase entspricht der Verarbeitungsreihfolge im mentalen Bereich des Hörers. Entscheidend für das Verstehen des Hörers ist zunächst das Erkennen der Grenzen einer Funktionseinheit (vgl. Hoffmann 2016, S. 479) [5].
Das Vorfeld ist als ein Raum der Vorschau, das Nachfeld als ein Raum der Nachschau zu begreifen. Das Determinativ markiert die linke Phrasengrenze und eröffnet dem Hörer das Vorfeld. Primär wird dem Hörer mit dem Artikelwort operativ ein gemeinsames Wissen signalisiert. In einer Vorschau präsentieren sich dem Hörer die restriktiven Mittel im Vorfeld. Den Kopf, die Basis der Funktionseinheit, rezipiert er als schon restringierte Einheit, als fertiges Bild. Die Voranstellung der Attribute im Flexionsraum führt zu einer zentrifugalen, progressiven Verarbeitung im Wissen. Die Teile drängen zum Kopfsubstantiv hin. Den mentalen Prozess, der sich im Hörerwissen abspielt, kann man sich so vorstellen:
Die im Vorfeld erweiterte Nominalphrase ist ein Prozedurenkomplex. Der Kopf als Symbolfeldausdruck wird durch die symbolischen Adjektive und durch das deiktische Adverb charakterisiert. Das Determinativ ist operativ. Die Reihenfolge der Verarbeitung ist wie folgt zu paraphrasieren: Das, was kopfnah ist, wird zuerst verarbeitet (heute veräußerte). Dann kommt die Verarbeitung der kopffernen Elemente (grüne große). Diese Elemente sind auf die Basis (Haus) hingeordnet, die für das hörerseitige Verstehen hinreichend restriktiv charakterisiert wird.
Im Nachfeld ist dasselbe Prinzip zu beobachten: Einheiten in unmittelbarer Kopfnähe werden zuerst als charakterisierende Sprachmittel verarbeitet. Kopfferne bedeutet spätere Verarbeitung. Im Unterschied zum Vorfeld erfolgt die Verarbeitung in einer Nachschau, zentripetal, regressiv. Der Hörer muss auf die zu restringierende nominale Basis zurückorientiert werden:
Das Präpositionalattribut am Waldrand wird regressiv auf das Kopfnomen bezogen. Dies stellt den ersten Schritt der Eingrenzung dar. Diese Eingrenzung wird dann mit dem Relativsatz weiter eingegrenzt. Bei restriktiver Mehrfachbesetzung sind Restriktionen immer Restriktionen von Restriktionen.
Im Fall einer Vor- und Nachfeldbesetzung kommt es zu einer progressiven und regressiven Restriktion des Gegenstandsbereichs. Hier haben wir es mit einer komplexen Prozedurenanhäufung zu tun, wie sie in Sätzen vorkommen. Auch der Umfang gleicht dem Umfang von Sätzen, so dass man annehmen könnte, komplexe Nominalphrasen seien kondensierte Sätze. Die Nominalphrase bildet eine einzige Funktionseinheit, wie auch daran zu erkennen ist, dass sie mit ihrer kompletten internen Struktur das Vorfeld des Satzes besetzen kann.
Zunächst erfolgt die Restriktion im Vorfeld. Bei der Basis angekommen wird im Nachfeld die schon mehrfach restringierte Basis weiter restringiert. So hat der Hörer ein Wissen über das so versprachlichte Haus.
Für das Hörerverstehen ist das Erkennen der Grenzen der Funktionseinheiten von großer Bedeutung. Es ist davon auszugehen, dass der Hörer sich bei der Verarbeitung der komplexen Phrase an der Basis orientiert, die durch die Großschreibung markiert ist, und dann die progressive, gefolgt von der regressiven, Restriktion vornimmt. Die Phrase wird (auch beim Lesen) in ihrer Ganzheit wahrgenommen, was dem Verstehen des Satzes entgegenkommt. Sätze bestehen unmittelbar aus Phrasen. Das Erkennen der Phrasengrenzen korreliert mit dem Erkennen der Satzgrenzen.
References
[1] Hoffmann, Ludger (2003): Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren. In: ders. (Hg.): Funktionale Syntax. Die pragmatische Perspektive. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 18–121.[2] Ehlich, Konrad (2007): Sprache und sprachliches Handeln. 3 Bde. Berlin [u.a.]: de Gruyter.
[3] Ehlich, Konrad (2003): Determination – eine funktional-pragmatische Analyse am Beispiel hebräischer Strukturen. In: Ludger Hoffmann (Hg.): Funktionale Syntax. Die pragmatische Perspektive. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 307–334.
[4] Hoffmann, Ludger (2007b): Determinativ. In: ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 293–356.
[5] Hoffmann, Ludger (2016): Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: ESV.
[6] Selmani, Lirim (2020): Adjektiv. Heidelberg: Winter.
[7] Augst, Gerhard; Disselhoff, Katrin; Henrich, Alexandra; Pohl, Thorsten; Völzing, Paul-Ludwig (2007): Textsortenkompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt a. M. [u.a.]: Lang.
[8] Behaghel, Otto (1909): Beziehung zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern. In: Indogermanische Forschungen 1909/25/1, S. 110–141.
[9] Hoffmann, Ludger (2018): Syntax – formal und funktional. In: Ludger Hoffmann, Volha Naumovich und Lirim Selmani (Hg.): Funktionale Grammatik und Sprachvergleich. Berlin: ESV, S. 15–48.
[10] Hoffmann, Ludger (2007a): Adverb. In: ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 223–264.
[11] Selmani, Lirim (2019): Präpositionen des Deutschen. Mit kontrastiven Analysen zum Albanischen. München: iudicium.
[12] Schmidt, Jürgen E. (1993): Die deutsche Substantivgruppe und die Attribuierungskomplikation. Tübingen: Niemeyer.