Auf den Anfang kommt es an. Zur Sprache von Kindern im Vorschulalter (1978)
1 Soest
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Die Schriften Ludger Hoffmanns zu würdigen, darum geht es in diesem Sammelband zum Geburtstag. Gewünscht waren Beiträge, die die Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn abbilden – gerne mit persönlicher Note. Allein mit der Auswahl eines seiner vielfältigen Forschungsschwerpunkte hätte ich mich lange beschäftigen können. Ob Mehrsprachigkeit, Funktionale Grammatik, Pragmatik und Diskursanalyse oder Sprache und Recht – viele der in den Aufsätzen und Monographien behandelten Themen haben mich nicht nur persönlich beeindruckt, sondern auch Einfluss auf meine eigene Entwicklung gehabt. Doch beginnen wir am Anfang. Mit welchem Thema hat sich Ludger Hoffmann in seiner wissenschaftlichen Laufbahn zuerst beschäftigt und wie lese ich sein frühes Werk aus heutiger Sicht? Versetzen wir uns zur Beantwortung dieser Frage in die 1970er Jahre und betrachten die erste zentrale Station seiner Forschungsarbeiten.
2. Empirische Analyse der Sprache von Kindern im Kindergarten
Zu Beginn seines wissenschaftlichen Werdegangs hat sich Ludger Hoffmann mit seiner Dissertationsschrift der Analyse des Sprachverhaltens von Kindern im Vorschulalter gewidmet. Ziel seiner Arbeit war es, den Einfluss von Bildungsschicht und Dialektkontakt auf die Sprachentwicklung zu untersuchen. Ohne hier auf Details seiner Studie eingehen zu können, ist dies für mich eine besondere Arbeit. Zum einen hat Ludger Hoffmann das Sprachverhalten von Kindern im Vorschulalter in den Blick genommen. Bis dahin war vornehmlich der Spracherwerb jüngerer oder älterer Kinder untersucht worden (vgl. Hoffmann 1978, S. 1) [1]. Zum anderen hat er das sprachliche Handeln in authentischen Situationen des Kindergarten-Alltags erfasst und sich nicht auf evozierte Daten aus Sprachtests verlassen. Während auch heute noch viele Untersuchungen den Kindergarten als Ort nutzen, an dem wie durch Zufall viele Kinder beisammen sind, reflektiert Ludger Hoffmann bereits den institutionellen Rahmen: „Es dürfte klar sein, daß sich ein Kind in der gewohnten Umgebung des Elternhauses anders verhält als im Kindergarten.“ (Ebd., S. 9) [1] Neben interessanten syntaktischen Analysen erfolgt auch eine sprechhandlungssemantische Beschreibung von Aufforderungen. Seine exemplarische Analyse der Direktiva weisen auf institutionelle Überformungen hin, die auf unterschiedliche Strategien und Handlungsmuster zur Lösung der kindlichen Alltagsprobleme schließen lassen.
3. Bildungsreform des Elementarbereichs in den 1970er-Jahren
3.1 Kritik am Bildungssystem
Um die Arbeit von Ludger Hoffmann in den historischen Kontext einordnen zu können, werfen wir einen Blick auf einige Eckpunkte des bildungspolitischen Geschehens zur Zeit ihrer Entstehung. Zunächst müssen wir aber noch ein wenig weiter ausholen. Als Auslöser der sog. Ersten Bildungsreform der 1970er-Jahre gilt ein weltpolitisch bedeutendes Ereignis: der Sputnik-Schock. Seit Beginn des Kalten Krieges wetteiferten die USA und die Sowjetunion um die Vorherrschaft im Bereich der Hoch-Technologie und der damit einhergehenden militärischen Überlegenheit. Der Ost-West-Konflikt hat schließlich auch die Raumfahrttechnik erfasst und der Wettlauf der beiden Supermächte ins All begann. Im Oktober 1957 hat nun die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten – namens Sputnik – erfolgreich in den Weltraum gestartet – sehr zum Erstaunen der westlich-kapitalistischen Welt. War doch der Westen bis dahin von der technologischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten überzeugt. Die Befürchtungen der kapitalistischen Welt vor einer Reichweite sowjetischer Raketen nahm überhand und zog zunächst in den USA nicht nur mehr technologische Forschung, sondern auch umfassende Umstrukturierungen des Bildungssystems nach sich. Die Idee war, dass durch höhere Investitionen in bildungspolitische Programme mehr Menschen am Bildungssystem teilhaben könnten und in Folge eine größere Zahl ausreichend qualifizierter Fachkräfte sich am technologischen Fortschritt des Landes beteiligen könnten (vgl. z.B. Kobelt Neuhaus/Macha/Pesch 2018) [2].
Mit einiger Verzögerung entfaltete der Sputnik-Schock auch in der Bundesrepublik Deutschland seine Wirkung. Beklagt wurden auch hier Mängel im Bildungssystem; im Vordergrund stand die Frage nach Fachkräften und die Kritik an der hohen sozialen Selektivität. Den Boden für die umfassenden westdeutschen Bildungsreformen bereiteten die Analysen des Theologen und Pädagogen Georg Picht, der 1964 die vielzitierte deutsche Bildungskatastrophe ausrief und das gesamte restaurative Schul- und Bildungssystem der Bundesrepublik seiner Zeit in Frage stellte (vgl. Picht 1964) [3]. Pichts Kritik gründete auf Studien zum Bedarf an wissenschaftlichem und technischem Personal in den OECD-Ländern, die dem deutschen Bildungssystem eine alarmierende Rückständigkeit attestierten. Die angestoßenen Reformen zogen sich durch das gesamte Bildungssystem und betonten insbesondere die Bedeutung einer frühkindlichen Bildung. In Folge wurde der Kindergarten im Strukturplan des deutschen Bildungswesens als Elementarstufe des Bildungssystems anerkannt. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre führten die Reformen zu einer bis dahin beispiellosen Bildungsexpansion: Bildungsausgaben wurden verdoppelt, was nicht nur eine Steigerung der Anzahl von Universitäten und Schulen, sondern auch einen enormen quantitativen Ausbau der Kindergartenplätze nach sich zog (vgl. Roux 2002; Schmidt/Smidt 2014) [4] [5].
3.2 Kompensatorische Erziehung
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die besondere Bedeutung des Kindergartens als Forschungsfeld, war doch mit den hohen Investitionen in diese Institution die große Hoffnung auf frühe Förderung verbunden, um zum einen die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, zum anderen aber auch soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen. Hierbei sollten ausgleichende pädagogische Maßnahmen helfen, die bis heute unter dem Begriff kompensatorische Erziehung zusammengefasst werden. Dabei wurde den Einrichtungen der frühen Bildung eine besondere Einflussmöglichkeit auf die Weichenstellung der Bildungslaufbahn eines Kindes zugeschrieben (vgl. Iben 1971) [6].
Ludger Hoffmann kritisiert in seiner Arbeit zum Sprachverhalten von Kindern im Vorschulalter diese bildungspolitischen Bemühungen der kompensatorischen Erziehung der 1970er-Jahre nicht gerade zaghaft. Er bezieht sich dabei auf die hohen Erwartungen und ernüchternden Befunde vor allem aus den USA (vgl. Hoffmann 1978, S. 1 ff.) [1], die diese Entwicklung schon zehn Jahre vorher durchlaufen hatten. Die an den Programmen geäußerte Kritik bezieht sich auf die schwache bis nicht vorhandene empirische Basis der formulierten Thesen, dass Entwicklungsdefizite von Kindern durch die Kompensatorik in der frühen Kindheit ausgeglichen werden könnten (vgl. ebd., S. 2 [1]; aus heutiger Sicht Schmidt/Smidt 2014, S. 134) [5]. Doch nicht nur die Untersuchungsbefunde, sondern auch die formalisierten Trainingseinheiten, die einseitig auf sprachliche und kognitive Fähigkeiten ausgerichtet waren und nur wenig mit der Lebenswelt der Kinder zu tun hatten, sind Stein des Anstoßes (vgl. ebd.) [1] [5]. Ludger Hoffmann stellt auch die Aufgabenstellung, das Setting und die Durchführung der Testungen in Frage, auf deren Grundlage den Kindern Defizite zugeschrieben wurden (vgl. Hoffmann 1978, S. 2 f.) [1]. Ausgeprägte Mittelschichtsorientierung, die von Kindern aus unteren Schichten zu starke Anpassungsleistungen fordere und ihre Fähigkeiten nicht wertschätze, sind weitere Vorwürfe, die bis heute auch von vielen weiteren Seiten geäußert werden (vgl. zusammenfassend Schmidt/Smidt 2014) [5].
4. Konsequenzen für die aktuelle Forschung und Weiterbildung
Parallelen zum PISA-Schock, der 2001 ausgelöst wurde, und sehr ähnliche Fachdiskussionen und Debatten in puncto kompensatorische Erziehung zur Folge hatte, liegen auf der Hand (vgl. zur heutigen Kritik an der kompensatorischen Erziehung u.a. Betz 2010) [7].
Trotz der Einschränkungen der damaligen Datenbasis sind die frühen Befunde Ludger Hoffmanns auch aus heutiger Sicht interessant, denn weiterhin sind Gespräche im Kindergarten nur wenig erforscht (vgl. die Studien zu Gesprächen in Kindergärten der ehemaligen DDR Kraft 2007 [8]; Meng/Kraft 2007 [9]; Kraft/Meng 2009) [10]. Auch wird in den Transkripten deutlich, dass die räumliche und zeitliche Organisation des institutionellen Alltags bemerkenswert veränderungsresistent ist und auch heute noch in ähnlicher Form durch ausgewiesene Spielzonen (z.B. Maltisch, Bau- und Puppenecke) oder durch Phasen des Freispiels und angeleiteter Angebote strukturiert wird (vgl. Hoffmann 1978, S. 324 ff.) [1]. Dieser Aspekt verdient auch zukünftig noch weitere Beachtung (vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Konrad Ehlich (2020) [11] zur institutionellen Resilienz). Zudem gibt es in Randbemerkungen der Studie interessante Hinweise auf das Handeln der pädagogischen Fachkräfte, die lohnenswerte Ausgangspunkte für aktuelle Studien bieten:
Die teilnehmenden Erzieherinnen gehörten einfach zur Situation dazu, da sie immer gegenwärtig waren. Die Kinder änderten ihren Sprachstil nicht, wenn sie beispielsweise die Erzieherin anredeten. Ein Grund dafür mag sein, daß die Kinder fast überhaupt nicht korrigiert wurden; vielmehr bedienten sich die Erzieherinnen oft einer der Kindersprache angenäherten Sprachvariante. Natürlich lernten die Kinder stets aus den Äußerungen der Erwachsenen; sie wurden teilweise sogar mit einem Übermaß an Erklärungen unbekannter Worte oder Tatsachen versorgt. (Hoffmann 1978, S. 27) [1].
Beziehen wir dieses Zitat auf den aktuellen Forschungsstand der empirischen Pädagogik, zeigt sich, dass der verbalen Interaktion zwischen den pädagogischen Fachkräften und Kindern zwar eine zentrale, entwicklungsbegünstigende Rolle zugeschrieben wird, eine konsequent dialogorientierte Gesprächspraxis jedoch nur selten beobachtet werden kann (vgl. Albers 2009 [12]; König 2007 [13]; Fried 2010) [14]. Im Zuge der aktuell bildungspolitisch favorisierten sog. alltagsintegrierten Sprachbildung stellt sich mit Blick auf die frühe Beobachtung von Ludger Hoffmann die Frage, wie das sprachliche Handeln der Fachkräfte überhaupt zu verändern ist (vgl. Briedigkeit 2011) [15]. Angesichts der großen politischen Anstrengungen und kostenintensiven Bemühungen der letzten Jahre, die Qualität der Kindertageseinrichtungen über die Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte zu erhöhen, ist diese Frage nicht marginal. Wenn das sprachliche Handeln in der Institution Kindergarten über Routinen der Fachkräfte gesteuert wird, benötigen wir eine Forschung, die diese Schemata aufdeckt. Aus der Beschreibung, welche spezifische Überformungen der Alltagskommunikation sich ausgebildet haben, könnten Handlungsempfehlungen für die Weiterbildung von Fachkräften abgeleitet werden. Diese sollten die kommunikativen Probleme und interaktiven Einsatzmöglichkeiten der pädagogischen Praxis stärker berücksichtigen als die aktuelle Weiterbildungslandschaft dies bisher getan hat (vgl. für die nord-amerikanische Weiterbildungslandschaft Egert/Eckhardt/Fukkink 2017) [16]. Ein in diesem Zusammenhang zentrales Ergebnis der Studie von Ludger Hoffmann ist der Befund, dass die natürliche Kommunikation im Kindergarten in erster Linie von dem dort „herrschenden Erziehungsklima“ abhängt (vgl. Hoffmann 1978, S. 308) [1]. So verstehe ich Ludger Hoffmanns Aufschlag, das sprachliche Handeln in natürlichen Zusammenhängen zu untersuchen, als Pionierarbeit für die Beschreibung der Institution des Kindergartens, die heute in vielseitiger Form für die Forschung und Weiterbildung aufgegriffen werden kann.
References
[1] Hoffmann, Ludger (1978): Zur Sprache von Kindern im Vorschulalter. Eine Untersuchung in zwei Kindergärten aus dem niederdeutschen Sprachraum. Köln [u.a.]: Böhlau.[2] Kobelt Neuhaus, Daniela; Macha, Katrin; Pesch, Ludger (2018): Der Situationsansatz in der Kita. Freiburg [u.a.]: Herder.
[3] Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Olten [u.a.]: Walter.
[4] Roux, Susanna (2002): PISA und die Folgen: Der Kindergarten zwischen Bildungskatastrophe und Bildungseuphorie. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildung-erziehung-betreuung/967, zuletzt geprüft am 01.04.2021.
[5] Schmidt, Thilo; Smidt, Wilfried (2014): Kompensatorische Förderung benachteiligter Kinder – Entwicklungslinien, Forschungsbefunde und heutige Bedeutung für die Frühpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 60 (1), S. 132-149.
[6] Iben, Gerd (1971): Kompensatorische Erziehung. Analysen amerikanischer Programme. München: Juventa.
[7] Betz, Tanja (2010): Kompensation ungleicher Startchancen. Erwartungen an institutionalisierte Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder im Vorschulalter. In: Peter Cloos und Britta Karner (Hg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, S. 113-134.
[8] Kraft, Barbara (2007): Und wo sind die Hände? Beobachtungen zur Funktion von Rückfragen bei der Erziehung und Wissensvermittlung im Kindergarten. In: Katharina Meng und Jochen Rehbein (Hg.): Kindliche Kommunikation. Münster: Waxmann, S. 229-254.
[9] Meng, Katharina; Kraft, Barbara (2007): Streit im Kindergarten. Eine Diskursanalyse. In: Angelika Redder (Hg.): Diskurse und Texte. Festschrift für Konrad Ehlich zum 65. Geburtstag. Tübingen: Stauffenburg, S. 439-457.
[10] Kraft, Barbara; Meng, Katharina (2009): Gespräche im Kindergarten. Dokumente einer Längsschnittbeobachtung in Berlin-Prenzlauer Berg 1980-1983. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache.
[11] Ehlich, Konrad (2020): Linguistische Analyse und institutionelle Resilienz. In: Helmut Gruber, Jürgen Spitzmüller und Rudolf de Cillia (Hg.): Institutionelle und organisationale Kommunikation. Theorie, Methodologie, Empirie und Kritik. Gedenkschrift für Florian Menz. Göttingen: V & R unipress, S. 25-37.
[12] Albers, Timm (2009): Sprache und Interaktion im Kindergarten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[13] König, Anke (2007): Dialogisch-entwickelnde Interaktionsprozesse zwischen ErzieherIn und Kind(ern). Eine Videostudie aus dem Alltag des Kindergartens; Dissertation. Dortmund: Universität, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Soziologie.
[14] Fried, Lilian (2010): Wie steht es um die Sprachförderkompetenz von deutschen Kindergartenerzieherinnen? – ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Hans-Joachim Fischer, Peter Gansen und Kerstin Michalik (Hg.): Sachunterricht und Frühe Bildung. Forschungen zur Didaktik des Sachunterrichts, Bd. 9. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 205-218.
[15] Briedigkeit, Eva (2011): Institutionelle Überformung sprachlicher Handlungsmuster – Realisation von Fragetypen im Erzieherin-Kind(er)-Diskurs. In: Empirische Pädagogik 25 (4), S. 499-517.
[16] Egert, Franziska; Eckhardt, Andrea G.; Fukkink, Ruben G. (2017): Zentrale Wirkmechanismen von Weiterbildungen zur Qualitätssteigerung in Kindertageseinrichtungen. In: Frühe Bildung 6 (2), S. 58-66.