Wovon die Rede ist: Redegegenstände in "Syntax – formal und funktional"
1 Berlin
Mit Deinem Beitrag Syntax – formal und funktional steckst Du, lieber Ludger, den theoretischen Rahmen ab für den von Dir 2018 mitherausgegebenen Band Funktionale Grammatik im Sprachvergleich [1]. Du skizzierst ein beeindruckendes Begriffsgeflecht zur Erfassung des sprachlichen Handelns, das auch einen funktionsbasierten Vergleich des sprachlichen Handelns mit unterschiedlichen Sprachen erlaubt. Syntax – formal und funktional enthält die Essenz aus Deinen umfassenden, über Jahrzehnte entwickelten Darstellungen, insbesondere Deiner Deutschen Grammatik (2016) [2]. Im Zentrum dieses Ansatzes steht Sprache als Verständigungsmittel: Sprachliche Äußerungen werden von ihrem (kommunikativen) Zweck her, dem Verstehen durch einen Rezipienten, in den Blick genommen (2018, S. 29) [1]. Sprachliche Mittel dienen aus dieser Sicht u.a. dazu, Redegegenstände zu „thematisieren“, um etwas über sie „sagen“ zu können. So lag es nahe, anlässlich dieses besonderen Bandes einmal zu versuchen, mein Verständnis einiger zentraler (Rede-)Gegenstände von Syntax – formal und funktional und dem, was über sie gesagt wird, zu entfalten.
Vom Titel her ist der erste Gegenstand die Syntax bzw. die „Grammatik“. Diese fasst Du auf als „Systematik des sprachlichen Handelns“ (2018, S. 29) [1]. Sprachliches Handeln betrachtest Du dabei vom kommunikativen Zweck her als ein „Verständigungshandeln“ und damit als „Kooperation“ und eingebettet in eine „Handlungskonstellation“ (2018, S. 29) [1]. Damit leuchtet ein, dass Grammatik als „Beschreibung des Satzaufbaus“ (2018, S. 15) [1] aus Wortformen bzw. Morphen zu kurz greift: Der entscheidende Bezugspunkt, von dem her der Satzaufbau, d.h. „die Struktur von Äußerungen (Kombinatorik und Abfolge)“ (2018, S. 29) [1] verstanden werden kann, fehlt: das Verständigungshandeln.
Wichtig ist Dir auch die Rückbindung der grammatischen Analyse an „konkrete Vorkommen [der Sprache] in Gesprächen und Texten“ (2016, S. 27) [2] – und das ist für eine empirische Wissenschaft, die die Sprachwissenschaft ist, wohl auch unerlässlich. Die Rede ist also von solchen „konkreten Vorkommen [der Sprache]“ und dem, was zu ihrer Analyse benötigt wird. „Konkret“ verstehe ich dabei hier als „ontologisch elementar“, im Gegensatz zu allen Arten von Abstraktionen. Welche Differenzierungen des Konkreten enthält also das von Dir skizzierte Modell des Verständigungshandelns, welche Differenzierungen benötigt die Analyse?
Gefunden habe ich zunächst die titelgebende Unterscheidung von zwei Bereichen konkreter Entitäten: zum einen den formalen Bereich der sprachlichen Mittel, zu dem insbesondere (Einzel-)Äußerungen V gehören sowie Sequenzen und Verkettungen solcher Äußerungen (vgl. 2016, S. 28) [2]; und zum anderen den funktionalen Bereich, zu dem insbesondere Handlungen H gehören sowie „Handlungsmuster“, die „als Sequenz mit Sprecherwechsel ([...]) oder Verkettung der Handlungen eines Sprechers ([...]) organisiert werden“ (2016, S. 33) [2].
Äußerungen V und Handlungen H gehören zu unterschiedlichen Seinsbereichen, denn sonst könnte nicht eine Realisierungsbeziehung zwischen ihnen bestehen: „Jede sprachliche Handlung wird durch eine Äußerung realisiert“ (2016, S. 32) [2]. Äußerungen sind ‚real’, Handlungen bedürfen der Realisierung. Was macht nun die ‚Realität’ von Äußerungen aus? Von was für einer Art von konkreten Entitäten ist die Rede, wenn Du von „Äußerungen“ schreibst? Ich probiere es einmal mit: von Sprechschall- bzw. gestischen ‚Ereignissen’ sowie von Schrift-‚Objekten’ (einschließlich der Spuren von Leuchtpunkten auf dem Bildschirm oder eines Fingers in der Luft) – also allgemein: von raumzeitlich-konkreten Entitäten. Von etwas, das extra-mental ist: das der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist, das Gegenstand einer sinnlich vermittelten Wahrnehmung wie Produkt eines körperlich vermittelten ‚Tuns’ sein kann.
Einleuchtend auch die Unterscheidung von sprecherseitigem „Meinen“ und rezipientenseitigem „Verstehen“ (2018, S. 44) [1]. Diese lässt mich bei einer konkreten Äußerung V zwischen ‚gemeinter Bedeutung’ u1 und ‚verstandener Bedeutung’ („Verständnis“) u2 unterscheiden. Beide – u1 und u2 – sind konkrete ‚mentale’ Entitäten, zu lokalisieren ‚in’ den Personen, die an der konkreten Verständigung teilhaben. Gibt es auch mentale Pendants der extra-mentalen Äußerung V? Auf Anhieb finde ich keine. Doch wie soll ein Sprecher/Schreiber eine sprachliche Äußerung V, die eine sprachliche Handlung von ihm realisiert, ohne ein mentales Pendant V1 von V hervorbringen? Und wie ein Hörer/Leser eine sprachliche Äußerung V in einer gegebenen Handlungskonstellation verstehen, ohne dabei ein mentales Pendant V2 von V aufzubauen? Als Visualisierung eines Verständigungshandelns komme ich damit zu einer Darstellung wie in Abbildung 1 (unter Vernachlässigung des funktionalen Bereichs).
Abbildung 1: Modell des Verständigungshandelns – Ausschnitt (1. Versuch)
Wovon ist noch die Rede? Äußerungen sind „sprachliche Mittel“ und gehören als solche zum „formalen Bereich“ (2018, S. 31) [1]. Zugleich „enthalten“ sie aber auch sprachliche Mittel (2016, S. 32) [2] – u.a. „Wortgruppen“ und „Konfigurationen aus linearer Abfolge, Akzentuierung, lexikalischen Mitteln“ (2018, S. 31) [1]. Daher ist mit einer Äußerung immer auch eine „Konfiguration sprachlicher Mittel, die das illokutive Potential [auf eine bestimmte Weise] einschränkt“, verbunden: ihr „Äußerungsmodus“ (2018, S. 32) [1].
„Wortgruppen“ sind Beispiele für Äußerungen, ebenso wie „Sätze“ und bestimmte „Wörter“ (2018, S. 31: „Äußerungen (Sätze, Wortgruppen)“, 2018, S. 32: „Jede Äußerung – ob Satz, Wortgruppe oder Wort“) [1]. Diese müssen also konkrete Entitäten vom selben Typ (V) wie Äußerungen sein. Ich stutze: Sätze, Wortgruppen und Wörter bzw. Wortformen sollen raumzeitlich-konkrete Entitäten sein? Also wohl Abschnitte von Sprechschallereignissen usw.? Und ich stutze noch einmal: Was sind „Konfigurationen“ als etwas raumzeitlich Konkretes? Insbesondere wenn sie u.a. aus der „linearen Abfolge“ (von raumzeitlich konkreten Entitäten?) bestehen können? Bin ich hier nicht unvermeidlich in die Sphäre des Abstrakten geraten: der Eigenschaften von raumzeitlich-konkreten Entitäten? Ich verstehe: Wenn ich das, wovon hier die Rede ist, genauer in den Blick nehmen möchte, brauche ich andere Werkzeuge – versuchen würde ich es mit denen in Lieb (1983, 1988) [3] [4].
Ich setze neu an: Sprachliche Äußerungen sind Mittel zum Zweck – sie haben eine „Funktion“ beim Verständigungshandeln (2018, S. 44) [1]. Und sie sind sprachliche Mittel, erfüllen ihren Zweck also nicht als reine Formen und unmittelbar wie etwa ein Schmerzensschrei oder ein Lachen. Bei sprachlichen Äußerungen gibt es eine systematische, durch eine ‚Sprache’ vermittelte Beziehung zwischen ihrer Form und ihrer Funktion, ihrem kommunikativen Sinn. Dazu finde ich (2018, S. 45) [1]:
Die Äußerungsbedeutung ist eine Verstehenskategorie, die das erfasst, was Hörer/Leser als kommunikativen Sinn einer konkreten Äußerung im Rahmen einer Handlungs- und Wissenskonstellation im Wissen verarbeiten können.
Was genau wird also nun einer Äußerung als „Äußerungsbedeutung“ zugeordnet? Ist es das Verständnis u2, von dem schon die Rede war? Das passt nicht ganz, da sie ja etwas erfasst, was verarbeitet wird. u2 hingegen hatte ich als Resultat eines Verstehensprozesses verstanden.
Auf der anderen Seite finde ich auch ein ‚konkretes’ Beispiel für eine Äußerungsbedeutung, deren Gestalt mir wohlvertraut ist (2018, S. 47)[1]: eine komplexe Verarbeitungsanweisung u, die mittels der sprachlichen Mittel, aus denen die konkrete Äußerung Eine schöne Frau trat ein ↓ als formale Einheit aufgebaut ist, Schritt für Schritt aus funktionalen Einheiten aufgebaut werden kann (↓ = fallendes Grenztonmuster). Wohin gehören nun solche Anweisungen, auf die der Rezipient beim Aufbau seines Verständnisses zugreift? Könnten sie zur Verständigung beitragen, ohne dass sie zum geteilten ‚Wissen’ gehören? Und wären sie als geteiltes Wissen nun rein intra-mental oder nicht vielleicht doch eher extra-mentale Abstraktionen mit intra-mentalen Pendants? Was ich verstehe, ist: Das Verständnis eines Rezipienten lässt sich begreifen als Resultat seiner Verarbeitung einer komplexen Anweisung, die er auf sich selbst, die Äußerung und die gesamte übrige Handlungskonstellation anwenden kann und soll. Die Anweisung u wäre also im Wesentlichen so etwas wie eine intensionale Relation zwischen den Komponenten von Handlungskonstellationen, die durch eine Sprache einem abstrakten Satz als Bedeutung zugeordnet ist, und die ein Rezipient bei seinem konkreten Verstehen auf die konkret vorliegende Handlungskonstellation anwenden kann, um eine konkrete Äußerungsbedeutung – sein Äußerungsverständnis – hervorzubringen. u wäre also das extra-mentale Gegenstück zu V, um das meine Visualisierung erweitert werden müsste (Abbildung 2). Und zugleich wären abstrakte Satzbedeutungen u Abstraktionen zu konkreten Äußerungsbedeutungen („Verständnissen“) u2.
Abbildung 2: Modell des Verständigungshandelns – Ausschnitt (2. Versuch)
(Abstrakte) Satz- und (konkrete) Äußerungsbedeutungen auf diese Weise miteinander zu verknüpfen ist eine zentrale Idee in Lieb (1983) [3]. Das sind überraschende Bezüge, die ans Licht kommen – bei meinem Versuch, die Redegegenstände in Syntax – formal und funktional und das, was über sie gesagt wird, zu verstehen. Ob ich dabei ein Verständnis erreicht habe, „das in [dieser] spezifischen [Handlungs-]Konstellation angemessen ist“ (2018, S. 46) [1], vermag ich nicht zu beurteilen. Aber auf jeden Fall ist die Zeit gekommen, Dir, lieber Ludger, Danke zu sagen: Für Deine Anregungen zum Verstehen beim Nachdenken über Sprache und sprachliches Handeln, die für mich ein unschätzbarer Gewinn sind!
Referenzen
[1] Hoffmann, Ludger (2018): Syntax – formal und funktional. In: Ludger Hoffmann, Volha Naumovich und Lirim Selmani (Hg.): Funktionale Grammatik und Sprachvergleich. Berlin: ESV, S. 15–48.[2] Hoffmann, Ludger (2016): Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: ESV.
[3] Lieb, Hans-Heinrich (1983): Integrational Linguistics. Vol. 1: General Outline. Amsterdam [u.a.]: Benjamins.
[4] Lieb, Hans-Heinrich (1988): Auditives Segmentieren: eine sprachtheoretische Grundlegung. In: ders. (Hg.): BEVATON – Berliner Verfahren zur auditiven Tonhöhenanalyse. Tübingen: Niemeyer, S. 147–194.