Cover: Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Von Anapher bis Zweitsprache - Facetten kommunikativer Welten

Bayrak, Cana; Frank, Annika; Heintges, Jessica; Sotkov, Mihail


SPOT an für Ludger! Interaktive Erkundungen eines digitalen Bilderbuches am Tablet in der Herkunftssprache Türkisch

Zeynep Kalkavan-Aydin 1


1 Freiburg

1 Erkunden und Kommunizieren – Vorüberlegungen

Bilderbücher sind als probates Mittel zur Förderung von Erzählfähigkeiten im Vor- und Grundschulbereich allseits bekannt. Durch den Einsatz mehrsprachiger Bilderbücher können Kinder früh in ihren sprachlichen Fähigkeiten gefördert werden (vgl. Kalkavan-Aydın 2016 [1]; Hoffmann 2018 [2], 1989 [3]; Ehlich 1983 [4]; Hausendorf/Quasthoff 2005 [5]). Neue Medien erlauben es, aufgrund der Interaktionsmöglichkeiten, die traditionelle Form der „Erzählung“ aufzubrechen. Beim Umgang mit digitalen Bilderbüchern steht die eigentliche Erzählung nicht unbedingt von Anfang an im Fokus. Die Verknüpfung visueller und textueller Elemente mit taktilem Handeln beim interaktiven Betrachten einer Bilderbuch-App erfordert hohe Planungs- und Kommunikationsfähigkeiten. Wenngleich die Ausbildung der Erzählkompetenz eng mit Literacy-Erfahrungen verknüpft ist, wird in diesem Beitrag ein Spagat zwischen Digital Literacy – verstanden als digitale Grundbildung und soziale Praxen in Verbindung mit digitalen Medien (vgl. Lohe 2018) [6] – und einer Gruppeninteraktion von Grundschulkindern vorgenommen. In Anlehnung an kommunikative „Ressourcen“ nach Hoffmann (2018) [2] werden exemplarisch sprachlich interaktive Handlungen in der Erstsprache Türkisch in den Blick genommen, die auf Basis des partizipativen Umgangs mit dem Medium Sprechhandlungen in Bezug auf den gemeinsamen Wahrnehmungsraum – real wie virtuell – ermöglichen.

2 Kommunikative Handlungen und Ressourcen

Mündlichkeit wird nach Hoffmann (2018) [2] als

ressourcenbasierter Ansatz [verstanden, der aufzeigt,] welche aktuellen und potentiellen Konstituenten zum Aufbau der sprachlichen Form in der sprachlichen Kommunikation herangezogen werden können und welche Konsequenzen sich mit der Ressourcenallokation verbinden. Kommunikation vollzieht sich in einem gesellschaftlichen Rahmen, einer kommunikativen Welt, in deren soziale und kommunikative Bewegungsformen Kinder hineinwachsen. (Hoffmann 2018, S. 15) [2

Beim Umgang mit einer Bilderbuch-App stehen Kinder als HörerInnen und SprecherInnen zugleich vor verschiedenen Herausforderungen und können ihre mehrsprachigen Ressourcen nutzen. Die kommunikative Konstellation setzt nicht nur sprachliche Fähigkeiten voraus; sie stellt zugleich eine Möglichkeit dar, auf Ressourcen der Mündlichkeit zurückgreifen zu können. Hoffmann (2018, S. 15 f.) [2] unterscheidet zwischen externen (z.B. adressierbare KommunikationspartnerInnen und Umgebung), internen (Wahrnehmungsmodi, Weltwissen, Sprachwissen etc.) und perzeptiven Ressourcen (auditive und visuelle Wahrnehmung).

In Bezug auf den Handlungsraum sind neben den SprecherInnen auch das Handlungspotential, die Perzeption, die Ausrichtung, der Ort, die Zeit sowie der Ereignisablauf zu berücksichtigen. Basierend auf Bühlers Origo-Modell (1934/1964; Ehlich 1979) [7] findet Verbalisierung als gemeinsame Orientierung mit „sprachlichen Zeigegesten“ (Hoffmann 2018, S. 20) [2] statt, zu denen, neben der personalen Deixis, die Deixis im konstellativen Raum und die in Bezug auf die Äußerungszeit zählt. Demnach inkludiert der gemeinsame Nähe- und Ferne-Raumbereich der App-Erkundung neben der Personaldeixis (ich, du etc.) einerseits den Verweisraum (Wahrnehmung, virtueller Raum), andererseits den neutralen Raumbereich (da, hier) oder in Bezug auf Dinge oder Figuren (dieser, jener) wie auch Richtungen (hierher) und Perspektiven (dahin, hinaus). Im Vergleich zum Türkischen hält Hoffmann (2018) [2] fest:

Die Raumwahrnehmung bildet sich aber in der Deixis nicht einfach in der Relation ‹Sprecher› – ‹Objekt/Person im Raum› ab; die sprachlichen Ausdrücke haben Feld-charakter und spannen Dimensionen wie Nähe – Ferne (Deutsch) oder Nähe – mittlere Distanz – Ferne (Türkisch) auf, so dass der Wahrnehmungsraum eine sprachliche Prägung erfährt. (Hoffmann 2018, S. 20) [2]

Der Hauptunterschied zeigt sich also im Gegensatz zur Zweierstruktur im differenzierten Dreiersystem des Türkischen, wie z.B. bei der Lokaldeixis im Türkischen anhand der Ausdrücke „orada“ (dort-Ferne), „şurada“ (mittlere Distanz) und „burada“ (Nähe) (vgl. Rehbein 2007, S. 413 f.) [8].

3 Mündliche Orientierung im gemeinsamen realen und virtuellen Wahrnehmungsraum

Das den Kindern vorher unbekannte digitale und textlose Zoom-Bilderbuch SPOT von David Wiesner (2015, Houghton Mifflin Harcourt Verlag) ist ein Medium mit Soundeffekten (z.B. Meeresrauschen etc.), das am Tablet betrachtet werden kann. Durch das Aufleuchten von Punkten und roten Pfeilspitzen auf den einzelnen Bildseiten erhalten die BetrachterInnen ein Signal, an welchen Stellen sie mit der sog. Pinch-to-Zoom-Geste weiter in die Geschichte eintauchen können, den Ort wechseln oder auch wieder zurückwechseln können. Sie verlassen eine Fantasiewelt und tauchen in eine neue ein, die mit der vorherigen nicht in direktem Zusammenhang steht. Die Geschichte beginnt in einem Arbeitsbüro, in dem drei Marienkäfer zu sehen sind. Je nachdem, für welchen Gegenstand oder welche Bewegungsrichtung sich die Kinder entscheiden, wird die Geschichte auf eine andere Weise fortgesetzt, so dass einzelne voneinander losgelöste Erzählstränge zu unterschiedlichen Handlungen zusammengeführt werden können. Durch das Zoomen in die Marienkäferpunkte wird ein neuer Ort geöffnet, an dem die schwarzen Punkte Regenschirme darstellen, die wiederum in eine Unterwasserwelt führen. Die sprachlichen Handlungen während der Erkundung der App basieren auf gemeinsamem Wissen in Bezug auf das Aufgabenziel. Alle Kinder sind HörerInnen und SprecherInnen zugleich und stehen daher vor der Aufgabe, untereinander Gesagtes zu verstehen und unmittelbar auszuführen. Die durch den stetigen Bildwechsel erzeugte Dynamik erfordert hohe Aufmerksamkeit. Die „geteilte Wahrnehmung“ sowie die „Orientierung“ verweisen darauf, dass die Kinder von unterschiedlicher raumorientierter Deixis (vgl. Hoffmann 2018, S. 17) [2] Gebrauch machen müssen, um sich im Hinblick auf die „Fortbewegung“ auf dem Bildschirm sowie im virtuellen Raum verständigen zu können. Nach einem gemeinsamen ersten Einstieg erfolgt eine komplexe sprachliche Kommunikation. Erkennbar ist dies an den realen Handlungen am Tablet (Streichen, Zoomen etc.) sowie an den illokutiven Akten, die mit diesen Handlungen verknüpft sind. Zur Verbalisierung dieser zählen neutrale sprachliche Verweise im gemeinsamen Wissensraum wie „şöyle“, „böyle“, „öyle“ (so, derart), die sich von lokal-sprachlichen Äußerungen im Deutschen im Hinblick auf Nähe und Distanz unterscheiden (vgl. Rehbein 2007) [8]. Eingebettet sind diese in Aufforderungen und Fragen, die die Bewegungsabläufe auf dem Tablet betreffen (Sequenz 6, Beispiel 1).

1

EMIS4:

Nereye gitti?  

 

Wo ist er/sie hingegangen?

2

FACO4:

Gözüm kapandı. Kim kapattı? 

 

Mein Auge ist geschlossen. Wer hat es zugemacht? ((Gemeint ist hier das „virtuelle Auge“, da der Bildschirm dunkel wird und es kurze Zeit so wirkt, als hätte jemand den Blick in die virtuelle Welt gesperrt))

3

Alle:

Aah oha wow!

 

Aah! Wow!

4

EMIS4:

Bir yere girdik. İçinden ses geliyor. 

 

Wir sind irgendwo reingegangen. Von dort kommen Geräusche.

 5

FACO4:

Bi dakika! Bi dakika! Bi dakika!

 

Eine Minute! Eine Minute! Eine Minute! 

6

HASÖ4:

Şöyle zoom yapılıyor!

 

So wird gezoomt!                     

Beispiel 1: Einstieg in die gemeinsame Erkundung (Übersetzungen jeweils unter den Zeilen)

 

Eine lokale Orientierung in der virtuellen Welt ist sichtbar an der Frage „Nereye gitti?“ (Sequenz 1, Beispiel 1). EMIS4 bringt mit dieser Frage sein/ihr Staunen zum Ausdruck, dass der Marienkäfer auf dem Display nicht mehr sichtbar ist und sich offenbar im virtuellen Raum fortbewegt hat. Daraufhin wird die Erkundung der Geschichte fortgesetzt, bis die Kinder feststellen, dass sie an einen anderen fremden Ort gelangt sind, aus dem unerwartete Laute ertönen. Währenddessen entdecken die anderen Kinder die Zoom-Geste. Anweisungen wie in Sequenz 6 (Beispiel 1), die die Handlung auf dem Tablet betreffen, folgen auch im weiteren Verlauf der Interaktion (Beispiel 2), wenn FACO4 aufgefordert wird zu stoppen (Sequenz 21, 23) oder in einen anderen Gegenstand einzutauchen (Sequenz 22). Bewegungsrichtungen werden mit der Lokaldeixis „şuraya“ (hierhin, Sequenz 24, Beispiel 2), „buraya“ (hierhin) oder „oraya“ (dorthin) vorgegeben.

21

HASÖ4:

Dur! Dur! Dur! Bi bırak!

 

Stopp! Stopp! Stopp! Lass doch mal los!

22

EMIS4:

İçine (unv.) – Burdan açık. 

 

Da rein –  Hier ist geöffnet.

23

HASÖ4:

Dur! Dur!

 

Stopp! Stopp!

24

FACO4:

Ha şuraya girelim, şuraya!

 

Ja, lasst uns hier reingehen, hier!

Beispiel 2:  Handlungsanweisungen

Bewegungsverben wie „gidelim“ (Lass uns gehen) oder „çıkalım“ (Lass uns rausgehen) begleiten die Handlungen am Tablet, die mit der Ausführung der Orientierung zusammenhängen. Sie werden mit den Verben „anfassen“ (dokunmak), „kaymak“ (rutschen, statt streichen) oder „drücken“ (bastırmak) versprachlicht; z.B. in Sequenz 105, Beispiel 3, wenn raumdeiktisch mit „burdan“ (hier) auf ein Signal auf dem Bildschirm verwiesen wird und die Tätigkeit des Anfassens im Sinne der Pinch-to-Zoom-Geste mit „dokunuyorum“ (ich berühre es) versprachlicht wird. Die kooperative Aufgabenlösung wird deutlich an der Verbalisierung der eigenen Handlungsschritte wie etwa das Ausprobieren einzelner Funktionen. Das gemeinsame Entdecken und die sprachlichen Handlungen führen in Beispiel 3 in eine Stadt mit Fischen („balıklar şehri“), in der HASÖ4 eine Rakete erkennt und FACO4, der/die bereits die Fischwelt erkunden möchte, auffordert zu stoppen. FACO4 nimmt dies als Aufforderung zur Kenntnis, gemeinsam „auf die Rakete zu steigen“ (Sequenz 109).

105

HASÖ4:

Ben burdan dokunuyorum.

 

Ich berühre (es) von hier.

106

EMIS4:

Bende burdan bastırayım. Aah, nerden açılıyor!

 

Und ich drücke mal hier drauf. Aah, hier öffnet sich das!

107

FACO4:

Selamünaleyküm! 

 

Grüß Gott! ((Begrüßt die Fische, die plötzlich auf dem Bildschirm zu sehen sind))

108

HASÖ4:

Aleykümselam ah balıklar şehrine mi geldik? Oha! Dur, dur, roket var!

 

Grüß Gott ((Gegengruß))! Ah, sind wir in einer Stadt voll von Fischen angekommen? Warte, warte! Da ist eine Rakete!

109

FACO4:

Rokete çıkalım!     

 

Lass uns auf die Rakete steigen!                        

Beispiel 3: Entdecken und Staunen

Am Beispiel deiktischer Ausdrücke wurde die Komplexität der Handlungen deutlich, die u.a. mit einer differenzierten Verweisstruktur im Türkischen zusammenhängt und eine reale Ebene mit einer virtuellen verknüpft. Die Verbindung auditiver und visueller Wahrnehmungen als „perzeptive Ressourcen“ stellen auf vielfältige Art einen komplexen Gegenstand dar, da die gemeinsame Orientierung der Handelnden (auf dem Bildschirm) „elementare Redegegenstände (bilden), die visuell und sprachlich fokussiert werden können“ (Hoffmann 2018, S. 16) [2]. Die in neue Fantasiewelten lenkenden Einzelbilder in der App führen dazu, dass in der interaktiven Auseinandersetzung am Tablet das kollaborative Erkunden vor dem eigentlichen Erzählen steht und dafür die kommunikative Ressource die Grundlage für eine gelungene Erzählung bildet. Das Potential digitaler Medien zur Förderung kommunikativer Fähigkeiten wird deutlich, da interaktive Handlungen in der Erstsprache zum Lösen gemeinsamer Aufgaben kognitiv aktiviert werden.


References

[1] Kalkavan-Aydın, Zeynep (2016): Mehrsprachige Ressourcennutzung in interaktiven Bilderbuchrezeptionen. In: Peter Rosenberg und Christoph Schroeder (Hg.): Mehrsprachigkeit als Ressource. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 25–54.
[2] Hoffmann, Ludger (2018): Grammatik und gesprochene Sprache im Diskurs. In: Arnulf Deppermann und Silke Reineke (Hg.): Sprache im kommunikativen, interaktiven und kulturellen Kontext. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 5–28.
[3] Hoffmann, Ludger (1989): Zur Bestimmung von Erzählfähigkeiten. Am Beispiel zweitsprachlichen Erzählens. In: Konrad Ehlich und Karl-Richard Wagner (Hg.): Erzähl-Erwerb. Frankfurt a. M.: Lang, S. 63–89.
[4] Ehlich, Konrad (1983): Alltägliches Erzählen. In: Willy Sanders und Klaus Wegenast (Hg.): Erzählen für Kinder – Erzählen von Gott. Begegnung zwischen Sprachwissenschaft und Theologie. Stuttgart: Kohlhammer, S. 128–150.
[5] Hausendorf, Heiko; Quasthoff, Uta M. (1996): Sprachentwicklung und Interaktion. Opladen: Westdeutscher Verlag.
[6] Lohe, Viviane (2018): Die Entwicklung von Language Awareness bei Grundschulkindern durch mehrsprachige digitale Bilderbücher. Tübingen: Narr.
[7] Ehlich, Konrad (1979): Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln. Frankfurt a. M.: Lang.
[8] Rehbein, Jochen (2007): Erzählen in zwei Sprachen – auf Anforderung. In: Katharina Meng und Jochen Rehbein (Hg.): Kindliche Kommunikation – einsprachig und mehrsprachig. Münster [u.a.]: Waxmann, S. 393–459.