Cover: Inklusionsorientiert Lehren und Lernen - Methodenkatalog für den Hochschulkontext

Inklusionsorientiert Lehren und Lernen - Methodenkatalog für den Hochschulkontext

Pferdekämper-Schmidt, Anne; Sartor, Teresa; Wilkens, Leevke; York, Jana


2.2 Inklusionsorientierte Didaktik

 Anne Pferdekämper-Schmidt 1
 Teresa Sartor 1
 Leevke Wilkens 1
 Jana York 1


1 Rehabilitationswissenschaften, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Germany

Leitfragen des Kapitels:

  • Welche Bedeutung hat das Inklusionsverständnis für ausgewählte Gruppen?
  • Warum ist Sensibilisierung und Kommunikation für die inklusionsorientierte Lehre so wichtig?
  • Welche Elemente gibt es, die inklusionsorientierte Lehre unterstützen?

Was bedeutet das weite Inklusionsverständnis beispielsweise für die Gruppe der Studierenden?

Auch wenn häufig von der Gruppe der Studierenden gesprochen wird, muss beachtet werden, dass sich auch diese Gruppe aus verschiedensten Menschen mit unterschiedlichen Lebenswelten zusammensetzt. Studierende unterscheiden sich beispielsweise in folgenden Aspekten: Alter, Familienstand, Bildungsherkunft, Hochschulzugangsberechtigung, Vorerfahrung (Ausbildung, Berufstätigkeit), Migrationshintergrund, gesundheitliche Beeinträchtigungen und Studienerschwernis, Studienfinanzierung und wirtschaftliche Situation [1]. Sie können sich ebenso darin unterscheiden, welche Zugänge, Medien und Kooperationen, sie zum lernen präferieren (s. Kapitel Methodenauswahl).

Das bedeutet für Lehrveranstaltungen, dass die Studierenden dort einerseits wahrscheinlich einen ähnlichen Studienhintergrund haben, es aber andererseits höchst unterschiedlich sein kann, wie sie ihr Studium finanzieren, welchen Wissenshintergrund sie mitbringen, ob sie Kinder haben oder ob sie bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Die Nutzung verschiedener Methoden und eine Sensibilisierung für die unterschiedlichen Bedarfe von Teilnehmenden, sind die Basis, um die unterschiedlichen Bedarfe, Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Lehre zu berücksichtigen und allen Teilnehmenden einen Zugang zu Lehrthemen zu ermöglichen.


Warum ist Sensibilisierung und Kommunikation für die inklusionsorientierte Lehre wichtig?

Für Teilnehmende mit Beeinträchtigung ist das Offenlegen der eigenen Beeinträchtigung (besonders bei nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen) gegenüber Lehrenden häufig mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden. So geben 50% der Studierenden mit einer psychischen Erkrankung und 32% aller Studierenden mit einer studienrelevanten Beeinträchtigung an, dass sie auf angemessene Vorkehrungen verzichten, weil Sie ihre Beeinträchtigung nicht offenlegen wollen [2]. Niemand ist grundsätzlich dazu verpflichtet eine Beeinträchtigung zu kommunizieren. Allerdings ist für die Beantragung eines Nachteilsausgleichs und der Berücksichtigung individueller Bedarfe die Offenlegung notwendig. Lehrende können also nicht davon ausgehen, dass an einem Seminar keine Teilnehmenden mit Beeinträchtigung partizipieren, wenn sich niemand meldet. Daher ist es umso wichtiger, Barrierefreiheit und Inklusionsorientierung proaktiv zu berücksichtigen.

Ein wesentlicher Aspekt für die inklusionsorientierte Lehre ist das Bewusstsein darüber, dass die Gruppe der Studierenden sehr heterogen ist. Dieses Bewusstsein sollte explizit gemacht werden, indem beispielweise verbindliche Gesprächsbereitschaft signalisiert wird. Teilnehmenden hilft es, wenn zu Beginn von Veranstaltungen kommuniziert wird, dass sie sich mit besonderen Bedarfen oder Problemen an die Dozierenden wenden können und gemeinsam mit ihnen nach einer Lösung gesucht wird. Dieses Angebot kann auch im Veranstaltungsverlauf wiederholt werden. Die Teilnehmenden wissen meist selbst am besten, was sie benötigen, um erfolgreich an einer Veranstaltung teilnehmen zu können. Der Anspruch der Lehrenden muss dabei nicht sein, dass eine komplette Veranstaltung von Beginn bis zur Nachbereitung ohne Barrieren für alle gestaltet ist. Dies ist ohne die Kenntnis über alle Bedarfe schwer umsetzbar. Deshalb ist es jedoch umso wichtiger, dass die Gesprächsbereitschaft kommuniziert wird, aber auch, dass offen eingestanden wird, wenn einem selbst die Kenntnisse fehlen oder externe Beratung hinzugezogen werden muss. Dafür bieten viele Hochschulen Beratungsstellen für Studierende und Lehrende an.

Die Gesprächsbereitschaft sollte mindestens zu Beginn von Veranstaltungen signalisiert werden. Dafür empfiehlt sich zum Beispiel die folgende Formulierung, die am Anfang einer Veranstaltung mündlich und schriftlich präsentiert werden sollte:
„Falls jemand von Ihnen aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung jetzt oder später Unterstützung braucht, wenden Sie sich bitte am Ende der Veranstaltung oder während meiner Sprechstunde an mich.“ [3]
Diese Formulierung schützt die Privatsphäre der Teilnehmenden, da sie selbst entscheiden können, wann und in welcher Form sie die individuellen Bedarfe mitteilen. Gleichzeitig wird die Bereitschaft signalisiert, das Gespräch mit den Teilnehmenden zu suchen und so ein Beitrag geleistet, Ängste, Sorgen und Unsicherheiten auf Seiten dieser abzubauen.

 Wenn Teilnehmende Gesprächsbedarf formulieren, sollte ihr Anliegen immer ernst genommen werden. Falls Informationen fehlen, die für die Veranstaltungsplanung und -durchführung relevant sind, weisen die Teilnehmenden sicherlich gerne auf diese hin. Grundsätzlich ist die Kommunikation nicht komplizierter zu gestalten als sie ist. Weder der Wortschatz muss eingeschränkt, noch Worte wie „sehen“ oder „gehen“ ausgeklammert werden. Sofern jemand den Eindruck macht, dass Hilfe benötigt wird, bieten Sie diese an. Die Entscheidung, ob Hilfe angenommen oder abgelehnt wird, muss anschließend respektiert werden.

Inhaltlich sollten in einem Gespräch folgende Aspekte angesprochen werden:

  • „In welchen Situationen in Lehrveranstaltungen und auch in Prüfungen werden voraussichtlich welche Probleme auftauchen?
  • Soll bei den Prüfungen ein Nachteilsausgleich geltend gemacht werden und wenn ja, welche Möglichkeit des Nachteilsausgleichs ist am besten geeignet?
  • Über welche technischen und personellen Hilfen verfügt die/der Betroffene selbst?
  • Welche Art der Unterstützung in der Veranstaltung ist wünschenswert oder sogar unentbehrlich?“ [4]

Ein Beispiel, welches sicherlich aus vielfältigen Situationen bekannt ist: Wenn die Studierenden nur mit Studenten angesprochen werden, wird vernachlässigt, dass auch Studentinnen in den Veranstaltungen sitzen. Für die richtige Ansprache, hilft der Leitgedanke: „Wer spricht und von wem wird gesprochen?“ [6]. Wenn also sowohl Studenten als auch Studentinnen angesprochen werden sollen, können neutrale Formulierungen, wie Studierende, aber auch Formulierungen mit Gendergap/Gendersternchen helfen: zum Beispiel Student*innen (in gesprochener Form wird eine kurze Pause zwischen Student und innen eingesetzt). So wird gleichzeitig berücksichtigt, dass es Studierende gibt, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Diese Sprachweise vermittelt gleichzeitig den Respekt und das Bewusstsein denjenigen gegenüber, die sich allein mit Studenten nicht angesprochen fühlen (Weitere Informationen zur Gendergerechten Sprache).

Über die Ansprache hinaus ist eine wertschätzende Kommunikation innerhalb von Veranstaltungen für das Lernklima förderlich. Dazu zählt zum einen die persönliche Anrede der Teilnehmenden. Dies ist in kleineren Seminaren leichter umzusetzen als in Vorlesungen, in denen versucht werden sollte, immer wieder die Namen zu erfragen, sodass zumindest in einzelnen Redebeiträgen der Name genutzt werden kann. Zum anderen gehört dazu aber auch, dass Redebeiträge und Fragen immer ernst genommen und einzelne Teilnehmende nicht bloßgestellt werden. Dies sollte auch in Diskussionen unter den Teilnehmenden forciert und eine wertschätzende Feedback-Kultur etabliert werden.


Welche Elemente unterstützen inklusionsorientierte Lehre?

Inklusionsorientierte Lehre wird durch Transparenz und Methodenvielfalt unterstützt.

Zum Einstieg in eine Veranstaltung sollten folgende Aspekte präsentiert werden:

  • Machen Sie den Ablauf transparent (Welche Themen werden in welcher Sitzung behandelt?).
  • Nennen Sie wichtige Termine und Fristen.
  • Stellen Sie Studien- und/oder Prüfungsleistungen vor.
  • Vermitteln Sie die Lernziele der Veranstaltung.
  • Ermutigen Sie die Studierenden, sich mit Bedarfen an Sie zu wenden.

Diese Punkte ermöglichen es den Teilnehmenden, die gestellten Erwartungen und Ansprüche von vornherein einschätzen zu können und damit den eigenen Lernfortschritt mit den gestellten Erwartungen abzugleichen. Gleichzeitig wird es Studierenden, die eine Literaturumsetzung benötigen oder für die eine Literaturrecherche (zum Beispiel im Rahmen einer Hausarbeit) mehr Zeit in Anspruch nimmt, die Möglichkeit gegeben, frühzeitig damit zu beginnen.

Durch den Einsatz verschiedener Methoden und Lernformen (zum Beispiel Einzel-, Gruppenarbeit, Vortrag) werden unterschiedliche Lernende angesprochen. So können Methoden und/oder Lernphasen ausgeglichen werden, die nicht ihrem bevorzugten Lernmodus entsprechen. Zusätzlich wird durch den Einsatz unterschiedlicher Methoden die Motivation und Konzentration innerhalb von Veranstaltungen gefördert. Die Kleingruppenarbeit oder kurze Diskussionsrunden zwischen Teilnehmenden ermöglichen es, im geschützten Rahmen offene Fragen und Unklarheiten zu diskutieren oder gemeinsam kreativ zu sein. In Gruppenarbeiten können die Stärken der einzelnen Gruppenmitglieder genutzt und Schwächen ausgeglichen werden. Durch Einzelarbeiten wird denjenigen Teilnehmenden, die nicht an Sitzungen teilnehmen konnten oder für die es schwierig ist, Gruppenarbeiten außerhalb von Seminarzeiten zu organisieren, trotzdem die aktive Mitarbeit im Seminar ermöglicht [7]. Wenn die Zielsetzung der Veranstaltung und das Lernziel es ermöglichen, sollte den Teilnehmenden die Wahl zwischen den verschiedenen Arbeitsformen gegeben werden.

Zusammengefasst lassen sich die Elemente der inklusionsorientierten Didaktiken in den verschiedenen Ausprägungen des Universal Designs einordnen. Das Konzept Universal Design stammt ursprünglich aus der Architektur, wurde aber seit 1995 auch auf Lehre und Lernen übertragen. Unter dem Konzept Universal Design gilt es Lehre so zu gestalten, dass sie „von allen Menschen so weit wie möglich ohne besondere Anpassung“ [8] und ohne individuelle Lösungen genutzt werden kann.

Weiterführende Links / Tipps

  • Die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) sammelt eine Vielzahl von Informationen zum Thema Studium und Behinderung. Im monatlichen Newsletter werden Tipps und Informationen zusammengestellt:  https://www.studentenwerke.de/de/behinderung
  • Das Center for Applied Special Technology (CAST) entwickelte das Universal Design for Learning und die entsprechenden Richtlinien. Auf ihrer Webseite stellen Sie diverse Informationen etc. zur Verfügung: https://www.cast.org/impact/universal-design-for-learning-udl

References

[1] Middendorf, Elke, Apolinarski, Beate, Becker, Karsten, Bornkessel, Phillip, Brandt, Tasso, Heißenberg, Sonja, Poskowsky, Jonas (2017). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
[2] Poskowsky, Jonas, Heißenberg, Sonja, Zaussinger, Sarah, Brenner, Julia (2018). beeinträchtigt studieren - best2. Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2016/17. Online verfügbar unter http://best-umfrage.de/wp-content/uploads/2018/09/beeintr%C3%A4chtigt_studieren_2016.pdf, zuletzt geprüft am 22.10.2018.
[3] Inklusive Hochschule (2018): Lehre barrierefrei gestalten. Ein Leitfaden für Lehrende an den Hochschulen Mecklenburg-Vorpommerns. Online verfügbar unter https://www.uni-rostock.de/fileadmin/uni-rostock/UniHome/Vielfalt/Barrierefreiheit/Leitfaden_MV_Inklusive_Hochschullehre.pdf, zuletzt geprüft am 09.12.2021.
[4] Di³; Studien-Service-Center der Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Hrsg.) (2014): Barrierefreies Studium. Leitfaden für Lehrende der Goethe-Universität. Online verfügbar unter https://www.uni-frankfurt.de/44214611/Leitfaden-Barrierefreies-Studium.pdf, zuletzt geprüft am 09.12.2021.
[5] Werning, Carola, Bömig, Susanne (2019): Barrierefreie Kommunikation und Sprache. In: Ingo Bosse, Jan-René Schluchter und Isabel Zorn (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Medienbildung (272-278). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
[6] AWO Bundesverband e.V. (2016). Die Werte der AWO in Sprache und Schrift. Bausteine zum vielfaltssensiblen Formulieren. Online verfügbar unter https://www.awo.org/sites/default/files/2017-05/Vielfaltssensible%20Sprache_Empfehlungen%20AWO%20Bu_end.pdf, zuletzt geprüft am 09.12.2021.
[7] Universität Graz (Hrsg.) (2018): Handreichung für eine inklusive Lehre. Online verfügbar unter https://static.uni-graz.at/fileadmin/Akgl/4_Fuer_MitarbeiterInnen/Handreichung_Inklusive_Lehre.pdf, zuletzt geprüft am 09.12.2021.
[8] Fisseler, Björn, Markmann, Mona (2012). Universal Design als Umgang mit Diversität in der Hochschule. journal hochschuldidaktik (1-2), 13–16.